Rest in Peace, Ray.







Antirat zieht um:
-> Das Cabinet des Christian Erdmann





Sonntag, 5. Juni 2016

Jakob von Gunten / The Fool














SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

Oktober 2008






Muffin Man:
Lesenswert wäre der, der nicht einfängt, was an Nichtigem kursiert, sondern Schrifttum darauf konzentriert, wohin der Mensch sich idealerweise weiterentwickeln könnte. Pech für diesen "Auserwählten", in den Augen seiner Mitwelt nur ein Narr zu sein... 





 
ray05:
Es geht doch um das WIE [schreibe ich] und nicht um das WAS; das wissen Sie doch als alter Dschäzzer; ich verstehe nicht, warum Sie den NARREN negativ konnotieren ...





 
Muffin Man:
Ein Narr darf zwar alles sagen, er wird jedoch nichts bewirken.
Eben diese Wirkungslosigkeit ist seine Tragik.





 
easystreets:
Muffin Man, das stimmt so nicht. Der Narr ist eine Figur, der unentschieden in der Mitte von zu verteidigenden Burgen sich aufhält und in der Groteske sich entsprechend der Groteske verhält. Der Narr ist auch der Weise, der Wahrsager und Wahrlacher, wie Nietzsche es seinen Zarathustra sagen läßt. Eine Mittlergestalt. Bewirken? Aktiv wirken?, passiv bewirken? Durch Dasein sein. Der Schamane ist eben so eine Figur. Ein Substanzmischer und Sichäußerer. Ein Weltenwanderer, auch zwischen denen der Zeit. Ein Mahner, kein Moraliger, einer, der den Wahnsinn auf sich zieht und ihn personifiziert darstellt, so quasi ihn aus der Welt zieht, stellvertretend; ein Reinigender, ein Heilsbringer. Einer, der die Informationen aus der Vergangenheit gegenwärtig hält, indem er sie heraufholt, wieder und immer wieder. Eben keiner, der ein Ziel braucht zum Los- & Draufstürzen. Kein totaler-Krieg-Woller. Ein Strukturaufweicher. Die Literatur ist voll davon. Nur personifiziert muß er sein, voll sein von den Substanzen, zwischen denen er nicht mehr unterscheiden kann, sie aber eint. Der Narr selbst ist nicht. Er hat keinen Körper, er ist voll und ganz in seiner Funktion. Er ist die Summe seiner Umgebung. Einer, der am 30. Januar 1933 laut lachend und quiekend, Rad schlagend, weinend und schreiend Unter den Linden entlang läuft, bis er von der SA eingefangen wird - das ist ein Narr. Was soll er sein? Gott, der Allmächtige? Der mit dem Riesenschwert, der eingreifen kann und es tut? Der Zeus, der Blitze wirft? Die tiefste Anteilnahme dürfte sich im Narren personifizieren.  






Aljoscha der Idiot:
Als Revolutionär nach unten Jakob von Gunten. Dies war ein Literaturtip.


 



easystreets: 
Spiegel-online zieht einem das Geld aus der Börse wie fallende Kurse in New York der Welt. Ich mach in Nullpunkten, mich betrifft die Sache also weniger. Ich fange mit Deinem Buch an, was die Hausaufgaben betrifft, machen wir es so. Wenn man drüber nachdenkt, über den Narren... es gibt keinen Gott, es gibt keinen Teufel und von beiden keine Menschwerdung. Nur im Narren, im duplex, personifiziert sich Beides, das Göttliche, Einende, wie das Teuflische, Teilende-Zweiende, und das zugleich und gleichermaßen. Die einzige Figur, die sich verläßt, um leer und geleert zu empfangen. "Der Offenbarung williges Gefäß", sozusagen. Das ist die Reinform. Die Wirklichkeit ist teuflisch, göttlich und närrisch-neckend zugleich, klar, was sonst. "Was liebt, das neckt sich" kommt ja daher.

Die Figur hat zumindest Einblicke hinter die Fassaden des Menschen... Das Besondere ist seine geistige Überlegenheit und seine Fähigkeit zur List. Seine Streiche lassen ihn den Zorn auf sich ziehen. Er hat viele Gesichter und trägt viele Namen, so wie auch Schelm oder Trickster. Er ist eine Wandlungsgestalt, auch ein Schöpferischer. Eine Doppelnatur mit notorischer Unintelligenz in seiner Kommunikation. Eine interessante Figur.






Aljoscha der Idiot: 
Sehr. Eine Ur-Trickster-Gestalt ist Hermes / Merkur, listenreicher Gott der Übergänge und der Transformation, und darum ist Hermeneutik ja auch so tricky, ständiges Springen im Dreieck, dem klassischen Dreieck der Zeichenwissenschaft. Nach Platon übernimmt Eros das hermeneuein, das Hin- und Herlaufen als universaler Mittler, als irgendwo Dazwischenseiender ist Eros ja auch Urbild des Philosophen. Sokrates mußte sterben, weil er alle am Kragen packte und rief: was meinst du eigentlich? Der Narr öffnet, was sich bereits verschlossen hat. Was der göttliche Narr u.a. spiegelt: daß Auslegung immer auch mit performance zu tun hat. Indem er das Umpolen der Wahrheitsreferenzen bis zur Karikatur treibt, macht er deutlich, wieviele vermeintliche Wahrheiten Riesen auf tönernen Füßen sind. Wie komme ich vom vorläufig Wahren ins wirklich Wahre?

Erstmal, indem ich auch die Kreativität des anderen verstehe, sein Genie, seine Irrtümer, sein Genie im Irrtum. Hermeneutik als Kreativität im Nachvollzug, und am wahrsten ist vielleicht die Interaktion selbst. Der Narr selbst tanzt ja, wie die Schöpfer des Tarot als Hommage auch an Dionysos abzubilden wußten, permanent am Abgrund. Aber er fällt nie, weil ihm der Abgrund nicht bekannt ist. Der Narr galt in fast allen Kulturen als möglicher Botschafter des Allerhöchsten.

Zu "Jakob von Gunten": Walser schrieb so, wie er dann starb. Mit einem unverständlichen Lächeln rückwärts in den Schnee fallend. Unaufdringlich, eindringlich, rätselhaft anmutig, befremdlich und faszinierend. Jakob ist "gern unterdrückt" und "kann nur in den untersten Regionen atmen", aber er weiß, daß das Institut Benjamenta, wo Diener geformt werden sollen, ihn verdummt, und er läßt sich nicht verdummen. Er ist sokratischer Hineintäuscher ins Wahre: "In mir lebt eine sonderbare Energie, das Leben von Grund auf kennen zu lernen, und eine unbegreifliche Lust, Menschen und Dinge zu stacheln, daß sie sich mir offenbaren." Seine "Ungezogenheiten" enthüllen ihn als Selbsterzieher, als Außensteher, dem eine Beziehung im klassischen Sinne nicht möglich ist, auch, weil er sich eigentlich ständig auf einer anderen Stufe der Realität befindet, wo u.a. kein zwanghaftes Auflösenmüssen vermeintlicher Paradoxien ihn noch interessiert. Fräulein Benjamenta führt ihn in die geheimnisvollen inneren Gemächer des Instituts, und der Gang führt auf eine winterliche Eisbahn. You can take it from there. Seine geistige Überlegenheit, seine List, seine notorische Unintelligenz in der Kommunikation, jedenfalls im Hinblick auf Verbindlichkeit: wir wissen nicht einmal, was ihm das alles wert ist, nützt, schadet. Am Ende geht er irgendwohin, Richtung Wüste. Scheint es. "Wir werden reisen. Schon gut. Mir paßt dieser Mensch, und ich frage mich nicht mehr, warum. Ich fühle, daß das Leben Wallungen verlangt, nicht Überlegungen." Vielleicht dachte Rimbaud das auch, als er Dichtung abbrach und scheinbar sinnlose Wanderschaft begann: "Gott geht mit den Gedankenlosen."

Diener sind auch in Liebesdramen häufig die Trickster.

Das Tarot as we know it in Europa geht mindestens bis ins 14. Jahrhundert zurück, die Vorstellungsinhalte der Bilder sind natürlich weitaus älter, Merkur / Hermes, Pan, Dionysos, heidnische Mysterienkulte, Gnosis, The Green Man, Parsifal etc etc., die erste und wichtigste Karte darin: The Fool, Le Mat, Der Narr.

Es geht um die "groteske Negation", immer leicht teuflisch angehaucht, weil ordnungszersetzend. Die Narrenkappe wurde ja nicht von deutschen Karnevalsdeppen erfunden, es ist eine altehrwürdige groteske Gegenkrone bei Ritualen der Umkehrung.

Was all das mit Literatur zu tun hat? Wie könnte man überhaupt Shakespeare verstehen ohne Verständnis für den Narren? Die Spitzen des jester's hat repräsentieren die Eselsohren, die man als guter jester früher noch trug. Wie gerade der größte Narr, zeitweise tatsächlich ein Eselsdasein fristend, prädestiniert ist, auserwählt ist, in das Kultgeheimnis der Isis eingeweiht zu werden, beschrieb Apuleius im 2. Jhdt. in "Der goldene Esel" – ein phantastischer, anarchischer, wunderbar burlesker, am Ende doch erhabener Roman. 

Die Präsenz des Narren in der Literatur, praktisch unüberschaubar. Aber der Narr stand immer essentiell für Redefreiheit und ist schon deshalb geradezu Schutzheiliger der Literatur. Zu seinen besten Künsten gehörte das Rätsel.

Falls das untergegangen sein sollte: es lohnt, "Jakob von Gunten" zu lesen.























(erstveröffentlicht / first published 05/2013)













Mittwoch, 27. April 2016

Vincent Price















SPIEGEL ONLINE Forum

Lieblingsfilme - was ist 'großes Kino'?

Januar 2010






AndersSehend:
... ebenso wie die Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen mit Vincent Price, die auch immer unter dem Der-Phantastische-Film-Banner gesegelt sind.  









Wegen dieser Filme war ich einmal eine Weile Mitglied in einer Vincent Price Appreciation Society. Die schickten mir dann ein Heft zu, in dem es ein sehr gutes Interview zu lesen gab mit Ferdy Mayne – Graf Krolock aus "Tanz der Vampire". Zu meinem großen Bedauern finde ich das Heft gerade nicht mehr... es ist ein Tohubohu hier, man möchte Jeanne Moreau als Kammerzofe.

"Laura", "House of Wax", "Die Fliege", die "Dr. Phibes"-Filme, "Theater des Grauens", "Witchfinder General" – die Liste der Filme mit Vincent Price, die mir ans Herzl geklebt sind, ist lang, aber tatsächlich ist der Corman / Poe-Zyklus mit Price für mich das gewesen, was für andere der "Struwwelpeter" war, und ich bekenne mich dazu, daß C.G. Jung mir wahrscheinlich sagen würde, Barbara Steele müsse irgendwas mit meiner Anima zu tun haben... die älteren Söhne einer befreundeten Familie schleusten mich regelmäßig durch ins Kino, und Vincent Price war sowas wie ein vertrauter Onkel. :)

Es scheint lange ein ungeschriebenes Gesetz gegeben zu haben, nach dem schauspielerische Leistungen in einem Horrorfilm tunlichst nicht als solche zu würdigen sind, Vincent Price hätte ansonsten in der Kandidatenliste der Motion Picture Academy wiederholt auftauchen müssen. Er hat perfektioniert, was eigentlich ein Widerspruch in sich ist: süffisantes, subtiles Overacting. – Mit seinem Minimalbudget hat Corman es irgendwie geschafft, Poe'sche Alpträume mit einer zumindest gefühlten Opulenz wie aus Hammer Horror-Filmen zu verbinden, und das alles mit seiner eigenen psychedelischen Extravaganz aufzuheizen. Und Price genießt seine Rollen zwischen sadistischem Prospero und zerkrumpelnd-melancholischem Psychopathen so sehr. Wunderbare Szene aus "The Masque of The Red Death": Hazel Court – "in whose bosom you could sink the entire works of Edgar Allan Poe" (TIME Magazine) – Hazel Court als Juliana versucht ja immerzu vergeblich, eine magische Vereinigung mit Satan zu vollziehen; als Prospero ihrer müde wird, wird sie Opfer seines Falken. Unvergleichlicher Genuß, Price dabei zuzusehen, wie er das rotgefärbte Dekolleté betrachtet und erklärt: "I beg you, do not mourn for Juliana. We should celebrate. She has just married a friend of mine."









AndersSehend:
Verrückt, war das ein US-Amerikanischer Verein? Das klingt für mich eher nach der liebevollen Verschrobenheit, die den Engländern immer nachgesagt wird. 








Das war eine deutsche Society... mit mir waren wir dann wahrscheinlich zwei. Das war so Anfang der 90er, jedenfalls kurz vor seinem Tod, und die Society schlief dann auch ein. Ein Autogramm von Vincent Price habe ich aber. Er hatte nicht die Schrift, die man von einem so weitausholenden Wesen möglicherweise erwartet. :)
















AndersSehend:
Ich weiß zwar nicht, wie ich heute auf die Corman'schen Poe-Verfilmungen reagieren würde, erinnern kann ich mich jedoch daran, dass sie lange nachgewirkt und einen enormen Eindruck auf mich gemacht haben, auch in dem Alter noch, als ich bereits ironiefähig war. Diese Wirkung hat sicherlich viel mit Prices Schauspielkunst zu tun, süffisantes, subtiles Overacting trifft es auch für mich genau :-), wobei die Synchronisationen zumindest schauspielerisch sehr gut gewesen sein müssen.










Wobei uns natürlich klar ist, daß "Verfilmungen" ein bißchen das falsche Wort ist, der Deal war immer loosely based on, mal mehr, mal weniger. Und ja, ich liebe die Synchronfassungen auch sehr! Auch wenn, siehe "Tanz der Vampire", zuweilen doch recht heftig manipuliert wurde, haben die Synchronsprecher in den 60ern da Großes geleistet. Vincent Price wurde am kongenialsten von Friedrich Schoenfelder gesprochen, darf mal zitieren: "Vor allem seine Synchroneinsätze für den Amerikaner Vincent Price haben einen legendären Status." [lauschrausch.eu]









AndersSehend:
Hast Du einen Tipp für mich, welche zwei, drei Filme aus dem Corman-Poe-Zyklus ich mir wieder anschauen sollte? Ich glaube, ich habe damals alle gesehen, für mehr wird meine Zeit wahrscheinlich nicht reichen, und diesmal auf jeden Fall die Originalfassungen. Ich freue mich jetzt schon auf Prices Stimme, die ich bisher bewusst nur aus dem Thriller-Finale kenne.










Oyvey... the most hilarious ist wohl "The Raven" mit Price, Boris Karloff, Peter Lorre und Jack Nicholson, und alle vier kennen keinen Bahnhof mehr. "The Fall of The House of Usher" ist der Klassiker, "The Pit and The Pendulum" ein spezieller Favorit wegen Barbara Steele, "Premature Burial" ist zwar auch gut, aber ohne Vincent Price, dafür mit Ray Milland. "The Haunted Palace" ist dann ja eigentlich mehr an Lovecraft orientiert, freilich auch ein überaus gelungener Film; "The Masque of the Red Death" ist dann der opulenteste, Corman durfte den ja in den Kulissen von "Becket" drehen, in denen gerade noch Richard Burton und Peter O'Toole Atem geraubt hatten. Kameramann war übrigens Nicolas Roeg. "Red Death" ist vielleicht der ernsteste und beeindruckendste. Aber dann ist da ja noch "Tomb of Ligeia", der meiner Erinnerung nach beim "Phantastischen Film" des ZDF immer fehlte, jedenfalls kenne ich ihn erst durch die DVD. "Ligeia" war Prices Lieblingsfilm aus der Serie. Unterscheidet sich vom Rest schon dadurch, daß er Außenaufnahmen hat, wurde in Norfolk Abbey, England, on location gedreht. Price trägt eine große schwarze Sonnenbrille, die seltsam anachronistisch, weil überaus cool wirkt. Der Film hat immer exzellente Kritiken gefunden, wurde mit "Vertigo" oder Cocteaus "Orphée" verglichen.














Vincent Price, Hazel Court






Roger Corman, Vincent Price