Rest in Peace, Ray.







Antirat zieht um:
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Mittwoch, 23. August 2023

Alexander Grin: Wogengleiter

 

 

 

Entzückt und unbeweglich saß ich im blauen Licht des Meeres und im goldenen des Raumes. Ich war glückselig, erhob mich mit leichter Seele und sagte mit feiner, unerklärlicher Überzeugung zu den Sonnengespenstern: "Euch, Zeichen und Figuren, die ihr mit unbekannter Bedeutung hereingebrochen seid und mich mit dem stillen Wechselspiel Eures golden-flimmernden Tanzes erfreut habt -, solange Ihr Euch noch nicht von mir wendet, vertraue ich das Rätsel des Unerfüllbaren in mir an. Ich bitte Euch, es zu lösen und mich zu erleuchten..."

Ich war mir dessen bewußt, daß mir diese Ansprache später etwas lächerlich vorkommen würde.






SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

September 2007




Gerade beendet: Alexander Grin, "Wogengleiter", 1928. Thomas Harvej, der Held des Romans, fühlt, wie "das Unerfüllte" ihn ruft, und beginnt, von den kleinlichen Angelegenheiten des Alltags abzusehen, stattdessen die "schwach flimmernden Schemen" zu ergreifen – den Zeichen zu folgen, die das Unerfüllte gibt. Er erblickt es in Form einer Frau, die im Hafen die Falltreppe eines Dampfers hinabschreitet, ein Bild, das er in den feinsten Regungen seiner Seele immer erwartet hat. Und dann gerät Harvej in haarsträubende Geschichten, in denen er den Mustern der Bestimmung nachspürt; er reist als Passagier auf dem "Wogengleiter", dessen schurkischer Kapitän Gaes "zufällig" ein Bild der von Harvej erblickten Frau, Bice Seniel, in seiner Kajüte hat. Von der Begegnung mit der übers Wasser gehenden Fresi und der später dasselbe Kleid wie Bice tragenden Desi bis zum allesverbergenden, allesverheißenden Karneval in Gel-Gju: eine stilistisch filigrane, mit hinreißenden Metaphern nur so um sich werfende Geschichte voller geheimnisvoller Charaktere, die bei allen verschlungenen Abenteuern doch wie eine Reise durch die Psyche, wie ein Weg durch das Labyrinth des Herzens ist.

Darum, Allez, lesen: um die Literatur das Leben überzeugen zu lassen, daß alles möglich ist. Daß es möglich ist, zwischen Betontürmen ohne Peinlichkeit und Lächerlichkeit den Blick für das Wunder zu bewahren. 
 
 
 
 
 

 









Montag, 22. Mai 2023

Iggy Pop






Am Abend des folgenden Tages kam Hilfssheriff James Osterberg über die Eselsbrücke in die Stadt geritten. Der Mann, den sie Iggy Pop nannten, dutzendmal geteert und gefedert, der Mann, der wußte, daß man alle Ausgänge kennen muß, bevor man durch den Eingang geht. Lang hatte er Blaßgesichtern das Feld überlassen; jetzt war er zurückgekehrt, um erneut seinen existentialistischen Halsbrecher-Report über die Bretter gehen zu lassen und die Anatomie zu schinden wie kein zweiter, den sehnigen glänzenden Gauklerkörper – man konnte sagen, dieser Körper hatte Charakterstärke – versehen mit einer rituellen Zeichnung: Narben all der Wunden, die der Mann sich zugefügt hatte in Zeiten, als die Frage "Was ist das Problem, James?" einen konvulsivischen Anfall zur Antwort bekam, begleitet vom Metallgewitter der drei bösen Stooges, weil das Problem war, daß man für das Leben ein zweites Leben als ständigen Kurort gebraucht hätte. Well, Leute. Intensität fängt irgendwann zu brennen an. Allen, die es wissen wollten, erklärte der Mann den Grund für seinen langen Rückzug: er hatte seinen Selbstrespekt verloren. Er hatte eine völlige Neuordnung seines Lebens vorgenommen. Er hatte die Selbstauflösung angehalten und im eigenen mentalen Irrenhaus die Rolle des Platzanweisers übernommen. Eine kopernikanische Wende. Wenn man sich selber ständig in die Quere kommt, hilft ein innerer Amoklauf. Sich nichts mehr vormachen und nichts mehr mitmachen, was man nur durchmacht. Siedende Wahrhaftigkeit aushalten, einem einfachen und starken Sinn zuliebe. "Ich wollte herausfinden", sagte der Mann, der schon alles gesehen und in der Hölle die Asche zusammengefegt hatte, "ich wollte herausfinden, was ein Liter Milch kostet."

Das hatte es in sich. Die Würde in diesem Satz! Das ließ den Spiegel der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu Bruch gehen. Das gab Sachschaden. Das warf Scheinwelt und Fassaden in den Orkus. Ein Mantra gegen faulen Zauber und Staffage. Vordringen zum wahren Jakob. Herausfinden, was ein Liter Milch kostet. Ein Kôan war das.

Und dann sagte der Mann noch etwas. Er sagte: "Es mußte getan werden, also tat ich es." Gott selbst hätte es nicht besser ausdrücken können.

An einem Abend im Dezember konnten Leda und Aljoscha miterleben, was geschieht, wenn Iggy Pop ein paar Bühnenbretter vorfindet, und die Meute, der sie angehörten, wußte, was sie dem Mann schuldig war. Vier Helfershelfer schufen einen Klangwall, auf dem Pop wilde Zeichen machte wie Pierrot auf Glatteis. Er holte das letzte aus sich heraus, und so herausgeholt sah das letzte noch viel besser aus. Der Genosse Osterberg, er lebe hoch, hoch, hoch! Von diesem Schauspiel würde man noch Jahre zehren, und Aljoscha fühlte sich nach dem Konzert so erquickt wie ein Spatz nach einem Sandbad.



Christian Erdmann, "Aljoscha der Idiot"
 
 
 
 

 



Wie kann ein Mensch in das, was er an der Welt liebt, nicht "The Idiot" und "Lust For Life" inkludieren? Eine Welt, in der diese beiden Platten gar nicht vorkommen, ist das überhaupt eine Welt? "I love those records so much", läßt Josh Homme die Katze aus dem Sack, als 2013 "... Like Clockwork" erscheint. Schon 1995 A.D. sind es diese beiden Werke von Iggy Pop, die Homme zur Offenbarung gereichen, mit dramatischen Folgen: auf der Stelle löst er Kyuss auf und gründet die Queens of the Stone Age.

Iggy Pop wiederum erklärt 2016 die Queens of the Stone Age in ihrer Mischung aus Virtuosität, Emotionalität und Präzision zum Inbegriff von Brillanz; besonders zwei Stücke von "... Like Clockwork", das Titelstück und "The Vampyre Of Time And Memory", hätten ihn berührt wie seit 40 Jahren nichts.

Daß "Post Pop Depression" die Vollendung einer Trilogie nach 39 Jahren ist, würde Gott selbst unterschreiben, wenn ihm denn sein derzeitiges Dasein als durchgeknallter Heckenschütze Zeit ließe, doch nach den erschütternden Todesfällen von Lemmy und David Bowie erschien "Post Pop Depression" wie Ausgießung des heiligen Geistes, Rettung, Trost. Daß Iggy Pop und Josh Homme in aller Heimlichkeit zur Schöpfung schritten, und daß diese Schöpfung tatsächlich so großartig ist, wie man es sich nur hätte ausmalen können, injiziert eine Dosis unfaßbarer Richtigkeit ins zerrüttete Weltgeschehen. Homme ist ein Heiliger, und was er anfaßt, wird zu Gold. Gesegnet der Tag, an dem er begriff, daß der Absender der mittlerweile legendären SMS tatsächlich Iggy Pop mit seinem ollen Klapp-Phone war. Homme: "Mir war nur klar: Wenn mich hier jemand verarscht, werde ich ihn dafür umbringen."

Ich war 20, als ich zwei große Lautsprecherboxen im Abstand von etwa 70 Zentimetern auf den Teppich stellte und meinen Kopf, der dazwischen lag, mit "Lust For Life" in die Luft sprengte. Dieser donnernde Drumbeat, 72 Sekunden bis HERE COMES JOHNNY YEN AGAIN, die umwerfendsten Einstiegssekunden eines Songs ever.

UNCUT: Iggy claims 'Lust For Life' was written in front of the TV in Berlin, with a rhythm copied from the tapping Morse Code beat of the Forces Network theme. Is this the case?

BOWIE: Absolutely.







Es gibt mehrere Gründe, warum der Roman "Aljoscha der Idiot" heißt, aber ohne "The Idiot" von Iggy Pop hätte ich ihn nie geschrieben.
 






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September 2009 




hans-werner degen: 
Zweigs Dostojewski interessiert mich deutlich weniger als mein eigener... 



 
Christian Erdmann:
"Dostojewski ist nichts, wenn nicht von innen erlebt." (Stefan Zweig) 




einEi: 
Stefan Zweig, der bekannte Schriftsteller, soll das gesagt oder geschrieben haben? Wann? Wo? Sie müssen schon mit Quellen arbeiten, sonst versteht hier keiner mehr, was das alles soll. 




Christian Erdmann:
"Sehr schön. Wenn Sie zur Tagesordnung sprechen, gut und schön. Gut und schön, wenn Sie zur Tagesordnung sprechen. Fahren Sie fort." (Flann O'Brien)




KLMO:
Im Detail ist Dostojewski ein Meister der menschlichen Psychologie. Doch wie löst er die Problematik als Ganzes? Seine Werke quellen über von Schuld und Sühne, Gott und Teufel, Paradies und Hölle, alles Metaphern, derer sich bevorzugt das Christentum bedient...





Christian Erdmann:
Iggy Pop, den die meisten nur als "Godfather of Punk" kennen, ist ein sehr belesenes Kerlchen, was sich zuletzt darin ausdrückte, daß er sich von Houellebecqs Roman "Die Möglichkeit einer Insel" zu einem Album inspirieren ließ. 1993 ließ er auf seiner "American Caesar"-Platte in seiner Version des Klassikers "Louie Louie" kurz verlauten: "I'm as bent as Dostoevsky".
 
Schon 1977 durfte man annehmen, daß Iggy Pop seinen Fjodor kennt: in diesem Jahr brachte er zwei Platten heraus: "The Idiot" und "Lust For Life". Zwei Titel, die, zusammengenommen, Dostojewski in der Nußschale ergeben.

AS BENT AS DOSTOEVSKY








zeigt sich Iggy Pop schon auf dem Cover, das sowohl von Heckels "Roquairol"
 
 







(nicht umsonst schleppte Bowie Iggy in Berlin durch die Expressionismus-Sammlungen)

inspiriert ist, als auch jenen Bildern Egon Schieles gleicht, in denen die Verzerrung und Verdrehung menschlicher Gestalt wie der Ausdruck des Fehlens jeglicher inneren Ausgewogenheit wirkt. Isoliert wirkende Gestalten - die Journalistin Kerstin Bode betitelte einen Artikel über Iggy Pop mal mit "Isolierter Sprengsatz" und spricht von seiner "grausamen Einzigartigkeit" –; Gestalten, die Schiele in "kompromißloser Selbstentäußerung" (Erwin Mitsch) aufs Blatt bringt, und über die Mitsch sagt: "Die organische Einheit des Körpers ... wird zerrissen in einander widerstrebende und bekämpfende Teilstücke. Sie werden Spiegelbild und sichtbarer Ausdruck innerer seelischer Kräfte und Vorgänge."

Iggy Pop "dehnt / biegt und krümmt seine Gliedmaßen zu Formen, die dem Gravitationsgesetz trotzen. Freiübungen eines Ballettänzers, der an der Starkstromleitung hängt." (Harald InHülsen, ca.1980).

Qual / Schmerz / Lust / Erregung.

Eines von Schieles Selbstbildnissen trägt den Titel: "Ich liebe Gegensätze".

Werner Theurich, den Hiesigen eher als "sysop" bekannt, schrieb nach einem Konzert von Iggy Pop in "Knopf's Music Hall" (heute Docks), bei dem ich auch zugegen war, über den "ewigen Märtyrer" (Zitat Theurich): "Nicht zu reden von Iggy Pops offensiven Bühnenshows, die über das Publikum hereinbrachen, mit denen Iggy sich auslieferte, Angst machte und immer um den vollen Einsatz spielte."

Iggy Pop im Sommer 1979:

"Ich habe gerade in der Herald Tribune eine Geschichte über den Nuklearen Endkampf gelesen; weißt du, was Bowie machen würde? Er schlägt seine Landkarte auf, sieht nach, wo die Bombe explodieren wird, steigt sofort ins Flugzeug und begibt sich an einen sicheren Ort, vielleicht Argentinien. Ich werde genau das Zentrum raussuchen, wo die Bombe aufschlägt, denn ich will es fühlen, genau da! Die Hitze spüren, den Schmerz!"

Poetische Übertreibung, vielleicht.

Brocken aus Stefan Zweig über Dostojewski:

"Von jeder seiner Gestalten führt ein Schacht hinab in die dämonischen Abgründe des Irdischen, hinter jeder Wand seines Werkes, jedem Antlitz seiner Menschen liegt die ewige Nacht und glänzt das ewige Licht ... Wer viel von sich selbst weiß, weiß auch viel von ihm ... die Liebe zum Leid, das unendliche Mitleiden ...

... Ein unaufhörlicher Kampf ist zwischen Dostojewski und seinem Schicksal ... Alle Konflikte spitzt es ihm schmerzhaft zu, alle Kontraste dehnt es ihm zum Zerreißen schmerzhaft auseinander ... Amor fati, die hingegebene Liebe zum Schicksal, die Nietzsche als das fruchtbarste Gesetz des Lebens preist, läßt ihn in jeder Feindlichkeit nur die Fülle fühlen, die Heimsuchung als Heil ... Gegen eine solche dämonische Verwandlungskraft des Erlebnisses verliert das äußere Schicksal gänzlich seine Herrschaft ... Triumph des Menschen über sein Schicksal, eine Umwertung der äußeren Existenz durch die innere Magie ... hat auch das Glück seiner Menschen nichts von einer gesteigerten Heiterkeit, sondern es flimmert und brennt wie Feuer ... Nie war vor ihm die Gegensätzlichkeit des Gefühles ähnlich weit aufgerissen, nie die Welt so schmerzhaft weit gespannt wie zwischen diesem neuen Pol der Ekstase und Zernichtung, die er jenseits aller gewohnten Maße von Glück und Leiden gestellt hat ... leidenschaftlicher Bejaher seines Schicksals ... Dostojewski provoziert im Glücksspiel das Schicksal: ... was er ihm abgewinnt, ist äußerster Nervenrausch, tödliche Schauer, Urangst, das dämonische Weltgefühl ... Er will unendliches Leben. Und Leben ist ihm einzig elektrische Entladung zwischen den Polen des Kontrastes ... Seine Moral geht nicht auf Klassizität, auf eine Norm, sondern einzig auf Intensität ... Lust (zeugt) das Leiden und das Leiden wieder Lust. Ewig berühren sich die Gegensätze ... Grenzenlose, restlose wissend-wehrlose Hingabe an sein zwiespältiges Schicksal, amor fati ist darum Dostojewskis letztes und einziges Geheimnis, der schöpferische Feuerquell seiner Ekstase. Eben weil das Leben ihm so gewaltig zugemessen war, weil es ihm Unermeßlichkeiten des Gefühles im Leiden auftat, hat er das grausam-gütige, göttlich-unverständliche, ewig unerlernbare, ewig mystische Leben geliebt ... Er will nicht wie Goethe zum Kristall erstarren ... sondern Flamme bleiben, selbstzerstörend, täglich sich vernichtend, um täglich sich neu aufzubauen, ewig sich wiederholend, aber immer mit gesteigerter Kraft und aus gespannterem Gegensatz. Er will nicht das Leben meistern, sondern das Leben fühlen ... Und nur so, als der "Gottesknecht", als der Hingebendste aller, konnte er der Wissendste alles Menschlichen werden ... Seine Helden ... sind nicht friedlich eingeordnet in unsere Welt, überall reichen sie mit ihrem Empfinden bis zu den Urproblemen hinab ... Sie wollen gar nicht in die Realität hinein, sondern von allem Anfang an über sie hinaus ... Sich selbst wollen sie fühlen und das Leben, aber nicht dessen Schatten und Spiegelbild, die äußere Realität, sondern das große mystische Elementare, die kosmische Macht, das Existenzgefühl ... jenes ganz urhafte Gelüst, das nicht Glück will oder Leid, die schon Einzelformen des Lebens sind ..., sondern die ganz einheitliche Lust ...

... Sie wollen das Leben weder erlernen noch bezwingen, gleichsam nackt wollen sie es bloß fühlen und fühlen als Ekstase der Existenz."

Wersilow und Katharina in "Der Jüngling", kurz vor dem Ende:

"Ich weiß, ich weiß, Sie sahen, daß Sie das nicht fanden, was Sie brauchten, aber... was brauchten Sie denn? Erklären Sie mir das noch einmal..."
"Habe ich Ihnen das denn schon einmal erklärt? Was ich brauche? Ja, ich bin doch eine ganz gewöhnliche Frau; ich bin eine ruhige Frau, ich liebe... ich liebe heitere Menschen."
"Heitere?"

Die Verständnislosigkeit, mit der Wersilow das wiederholt: "Heitere?"

Nochmals Stefan Zweig über die Figuren Dostojewskis:
"Glücklichsein ist ihnen gleichgültig, Zufriedensein ist ihnen gleichgültig, Reichsein eher verächtlich als erwünscht. Sie wollen nichts von all dem, diese Seltsamen, was unsere ganze Menschheit will. Sie haben den uncommon sense... sie wollen alles. Und alles ganz stark. Das Gute und das Böse, das Heiße und das Kalte, das Nahe und das Ferne."

Wissen, daß man verdreht ist, verzerrt, daß man scheitert, sich in (scheinbaren) Widersprüchlichkeiten zerreißt, daß man ein Idiot ist, ewiger Märtyrer, daß man sich selbst fast zugrunderichtet mit der Empathie, dem "unendlichen Mitleiden", mit dem Versuch, panoramisch zu sein, und bei alldem ICH LIEBE GEGENSÄTZE die Wurstmacher Wurstmacher sein lassen und dort Schätze finden, wo andere ums Verrecken nichts erkennen, wissen, daß man die Einheit noch in den vertracktesten Ambivalenzen aufspüren kann, und in alldem nichts fühlen als das Leben selbst: das, lieber KLMO, ist für mich bei Dostojewski viel wichtiger als "all die Metaphern", weil am Ende all dessen nicht sinnlose Liebe zum Exzeß steht, sondern: Lust for Life.







Iggy Pop, David Bowie, Tony Visconti - drei der an "The Idiot" Beteiligten hatten Dostojewskis "Der Idiot" gelesen.

David Buckley nennt "The Idiot" "a funky, robotic Hellhole of an album".

Komplett abgestürzt und ausgelaugt durch die Selbstzerstörungsorgie der Stooges, die sadomasochistischen Energien ihrer Musik, die Drogenexzesse, den Nihilismus und die Torturen an Leib und Seele steht Iggy Pop schließlich vor den Türen einer Anstalt. Zu den wenigen Besuchern in der Neuropsychiatrie zählt David Bowie. Im Frühjahr 1976 nimmt er Iggy als Begleitung mit auf seine Station To Station-Tour durch Europa, surreal schöne Fotos entstehen, Bowie und Iggy in Touristenpose auf dem Roten Platz oder im Moskauer Metropol-Hotel. 

Im Juli 1976, der Umzug nach Berlin läuft, beginnen Bowie und Pop im Château d'Hérouville mit den Aufnahmen zu "The Idiot". Das sexy Höllenloch öffnet sich mit "Sister Midnight".






Wie Bowie und Iggy Pop bei diesem Sound angekommen sind, bei dieser glorios hypnotischen strangeness, bleibt Geheimnis. "Damn, listen to what Dennis Davis is playing on 'Sister Midnight' ... it's insane!" (Iggy, 2016). Können vor Schaudern. Selbst jeder Schlag auf die crash cymbal wird von Dunkelheit verschluckt. Die brutale Insistenz, mit der das irreguläre Funk-Riff von Davis / Murray / Alomar und Iggys furchterregende Stimme Sister Midnight bearbeiten, ist betäubend. Dazu eine Gitarre, die den Mond anheult oder eine Jungfrau zersägt. Brian Eno über "The Idiot": als würde man langsam einbetoniert. 

"Calling Sister Midnight / I'm an idiot for you". Beep. 

"So as we were working on Sister Midnight, David was playing, and I was trying to tune the sound using a compressor to get a nice distortion. As I turned an equalization button on the desk, I got a sudden noise, like a 'bip'. I saw David, with the headphones on, startled in his chair. But he didn't stop playing. When he came back to the control room, he asked me 'What was that noise?' I told him that I made a mistake on the desk. We listened to the tape. The 'bip' was clearly distinct. 'It's nice! We'll keep it. '" - Laurent Thibault, Schloßpächter und house engineer im Chateau d'Herouville. 

Letzte Nacht unten im Labor, mit Dracula und seiner Crew. Das Album ist creepy. Kalte Dunkelheit, zwielichtige Dekadenz, expressionistische Verzerrung. Was ist, wird Obsession. "Low" erschien zuerst, aber "The Idiot" entstand zuerst und war Bowies Testgelände. Bowie inspiriert Iggy zu Gesang in bedrohlich tiefem Bariton, ghoulish zuweilen. Iggy: "I was working on the lyrics to 'Funtime' and he said, 'Yeah, the words are good. But don't sing it like a rock guy. Sing it like Mae West.'" Er entpuppt sich als verdammt guter Sänger. Iggy erhebt sich sinister majestätisch aus seiner Gebrochenheit, über postapokalyptischen Soundscapes, über Rhythmen, die, funky & robotic, einen ominösen Glamour in Bewegung bringen, und, vor allem, über all die Spuren von Verzerrung, die Bowie in die Musik legt. Zweig über Dostojewski variierend ließe sich sagen: von jedem Moment auf "The Idiot" führt ein Schacht hinab in die dämonischen Abgründe des Irdischen. Ich meine mich zu erinnern, daß ein Journalist mal schrieb: ideale Musik für eine Auspeitschparty.





  
Für den Nine Inch Nails-Song "Closer" modifiziert Trent Reznor ein Drum Machine-Sample aus "Nightclubbing". Die sleazy cabaret-Elemente von "Nightclubbing" verleihen das Gefühl, vampirhaft, like a ghost, durch die gespenstisch ausgeleuchteten Korridore und Hinterzimmer eines mysteriösen Etablissements zu schleichen, in dem unaussprechliche Dinge vorgehen.






Funtime: "Almost immediately, the listener is greeted by a zombie-like, dissonant chorus: 'All aboard for funtime'. ... The guitar on the first bridge starts with an off-note, but it's kept as it is part of the dissonant mood. During the bridges ... the listener feels helpless as if he / she is strapped into some kind of horror show carousel that is careening out of control.

This out of control feeling and ever present dissonance on this song makes the listener feel that something very UN-fun is actually happening and this is the main thrust of 'Funtime'. The juxtaposition of 'Fun' and 'Funtime' with the aggressive subject matter, monster references, leering sexual content and terrifying soundscape leaves the listener not with feelings of irony but unease." (Bradley Banks)

In den ersten Sekunden hört man etwas, das wie leises Schluchzen klingt, vermutlich gluckst Iggy vor dem vocal take einfach in sich hinein, aber die Atmosphäre ist von Anfang an beunruhigend. Bowies Gitarre, die vom falschen Akkord hochrutscht, lutscht sich Energie von Deinen Knochen, aber das ist Dir im Labyrinth der darkrooms jetzt ganz recht.






Eine der traurig schönen Traumpuppen da unten ist Baby, und der Sänger erklärt ihr: die Welt ist immer ungerecht. "I've already been down the street of chance". Please stay clean, please stay young, Iggy singt, als wolle er alle gleichzeitig hypnotisieren, Baby und die Dämonen, die es auf die Unschuld abgesehen haben. Bei 0:47 hört man einen Lautfetzen, der sich gerade noch als Bowies Stimme identifizieren läßt, wie aus dem Nebenraum des Songs, in dem sinistre Voyeure den lullaby sardonisch kommentieren. 

Zwischen "Funtime" und "China Girl" hat "Baby" es nicht leicht, aber wenn man den Song, sagen wir, 10mal nacheinander hört, bekommt man ein Gespür dafür, wie er der winterlichen Schneelandschaft gleicht, in der Iggy auf dem Coverbild die "Roquairol"-Pose nachstellt. Das absteigende Motiv, das Hit The Road Jack-Sachlichkeit vortäuscht und doch nur in schiere Unheimlichkeit getaucht ist, eine Landschaft, die man grimmig durchwandert, Fäuste in den Jackentaschen.






"China Girl", Amoklauf von Liebeslied, allesverzehrende Leidenschaft, die Bilder von eskalierender Herrschaftsphantasie und Vernichtung produziert, während Taumel und Wahnsinn sich steigern bis zu drohender Selbstentleibung. "China Girl" fängt nicht einfach an, "China Girl" entlädt sich, mit der Hoffnung auf escape, mit ihr, ohne sie ein Wrack, Iggy klingt verletzlich, fragil, I'd feel tragic like I was Marlon Brando, dann eskaliert der bedrohliche Unterton, wird manisch bei "It's in the white of my eyes", Iggys Stimme "distorting the microphone preamplifier" (Tony Visconti), und wen zwingt das nicht auf die Knie: "And when I get excited, my little China Girl says 'Oh Jimmy just you shut your mouth. She says, Sshhh..." Und dann ist er tatsächlich still, und dieses unfaßbar dramatische Ende nimmt seinen Lauf, Synthesizer mit Streicher-Grandeur, Bowies Saxophon glüht durch den dichten Mix, dann die gleißenden Gitarrenlinien, dann färbt sich die Sonne blutrot. 

Weihnachten 2013 war Iggy Pop zum ersten Mal mit einer eigenen Radioshow auf BBC 6 Music zu hören, seit 2015 führt er als "atmospheric bartender" regelmäßig durch den Abend, läßt uns teilhaben an seinem Gefühl für die Schönheit und Bedeutung der Songs, die er spielt, läßt uns wissen, falls wir es vergessen hatten, daß sie so viel mehr sind als nur Songs, und das Wunderbarste daran: wie er, der Godfather of (you name it), dabei Dankbarkeit und Demut durch den Äther schickt. Mit ähnlichem Gestus erklärt er 2016, der beste Teil von "China Girl" beginnt 
 
"when I shut up. There is a beautiful guitar line that David wrote. I knew it was good when we did it, but I was not able to appreciate it emotionally the way I do now. Every time I hear it, I feel all these things that have to do with coming and going. Because we all come, and we all go."

Der verzerrte fernöstliche Klang, den Bowie auf "China Girl" produziert: ein Spielzeugklavier, das Laurent Thibaults 8jähriger Tochter gehörte. Der Text würde auch Sinn ergeben, wenn "China Girl" eine Metapher für Heroin wäre, aber die Dame, die den Song wesentlich inspirierte, war eine Vietnamesin namens Kuelan Nguyen.

Am Ende des Songs ist mir immer, als hätte ich Abschürfungen. An der Seele. Manchmal brauche ich die Pause, die das Vinyl der LP danach gewährte, immer noch.






Für "Dum Dum Boys" spielt Bowie sich die Finger auf der Gitarre blutig, dann läßt er das Riff, das Synapsenverbindungen im Hirn herstellt, die ziemlich sleazy sind, Note für Note von Phil Palmer nachspielen (dem Neffen von Ray & Dave Davies). 7-Minuten-Ode an Aufstieg und Fall der coolen, bösen Gang, in der Iggy die Verachtung der Stooges für den Rest der Welt beschwört und ihre Geschichte damit zum Mythos macht. Siouxsie, die Edle, die später Iggys "The Passenger" für ein Cover-Album auswählt, beschrieb "The Idiot" als "re-affirmation that our suspicions were true: the man is a genius." Tatsächlich klingt "The Idiot" geradezu absurd anders als alles andere. "The Idiot" steht schief zur Welt, auf Trümmern, die noch rauchen.






Der Tag bricht an und du willst nicht leben, "'cause you can't believe in the one you're with", die Tricks und die Vergangenheit, der Verlust einer Unschuld, die dann auch die junge Unschuld nicht zurückbringt. "Tiny Girls" - ah what did you think. Über der dunklen Textur spielt Bowie das wunderschönste, coolste und zugleich wehmütigste Solo auf einem Plastiksaxofon für Kinder. 

Auf die Desillusionierung von "Tiny Girls" folgt die epische Verheerung von "Mass Production".






"I have no idea how Bowie and Pop achieved the song's unique sound; I suspect Alomar and a synthesizer are running the show, especially during the sublimely weird instrumental passage which makes you feel like you're on the floor of the ocean in a doomed submarine that is sending out an SOS." (Michael H. Little, 2016).

Dave Catching (QOTSA, EODM, Herz des Rancho de la Luna): "It sounds like they were detuning the synths too, and it always puts me in a trance whenever I listen to it."

8 1/2 Minuten Trance.

"The first thing you hear on 'Mass Production', the eight-minute industrial horror movie that finishes off The Idiot, is a synthesizer fading in, like a machine drawing breath; it's suddenly confined to the right channel, where it now drones a single note, like a foghorn, and it's answered by four piping notes in the left channel, a mechanical birdsong that repeats through much of the track (though often drowned in the mix). Dennis Davis' drum fill kicks the song into a semblance of life, and Iggy Pop appears, sounding like a man holding a hostage."

"Mass Production" - "is far from any sort of triumphal Futurism; there's no nobility of the machine found here, just a nihilistic realization that even the cold promise of machinery is a lie. If 'Mass Production' has a visual analogue, it's David Lynch's street sets for Eraserhead: a city seemingly purged of human beings and reduced to abandoned train tracks, lifeless tenements and an encroaching darkness." (Pushing Ahead Of The Dame)

Leben als industrielle Massenproduktion, Lyrics, in denen ein Mädchen nach der Nummer eines Mädchenduplikats gefragt wird, Austauschbarkeit und Leere und trotzdem ein seltsamer Reiz: Iggy Pop sprach immer fasziniert von der Schönheit verfallender Industriekultur. Das fadeout von "Mass Production" post-alles, der Song geht unter in grauer endloser Ferne und otherwordliness, letzte Atemzüge of everything, devastating und - unerklärlich schön.

G. Starostin: "Sometimes the noises get really ugly but then again it's mass production". "Das ist ja schrecklich! Wie das leiert!" rief Leda eines Abends bei besagter weird instrumental passage, und es war einer dieser Momente: "Aljoscha sah, wie an einer entscheidenden Weiche ein schwerer Hebel umgelegt wurde, von einem Mann, der sein Gesicht im Schatten der Hutkrempe verbarg."

"Though I try to die / You put me back on the line / Oh damn it to hell / Back on the line / Hell, back on the line / Again and again / I'm back on the line".

"The Idiot" war das letzte, das Ian Curtis in seinem Leben hörte. Für mich war in Phasen tiefster Verzweiflung, Entfremdung und Verachtung "The Idiot" ein Teil der Mythologie, die zu Auferstehung rief. "The Idiot" sagt: If you lived through this, you live through everything. Tief im Herzen dieser desolation liegt a new conviction. 





"The Idiot" und "Lust For Life" bedeuteten auch: die Götter sehen diesem Mann zu in stiller Bewunderung I'M AN EASY MARK WITH MY BROKEN HEART "Ein permanenter Versuch, die Verbindung zwischen dem brodelnden Inneren, der Irrationalität / dem eigenen Irrenhaus und der (er-)wartenden Außenwelt herzustellen" I STAND ON THE WORLD'S EDGE wer sonst ist mit mir AND I RIDE AND I RIDE smiles like a reptile HERE COMES MY FACE IT'S PLAIN BIZARRE ich fotografierte das "Lust For Life"-Cover und vergrößerte es für meine Wand, "a beaming, slightly mad-looking Iggy shot in a dressing room during the March '77 UK tour. It's the face of a man ready to harangue the world while he charms it" JESUS? THIS IS IGGY ein Gesicht, aus dem man Handlungsmaximen ableiten kann THINGS GET TOO STRAIGHT I CAN'T BEAR IT selbstverständlich ist er 1977 die schönste Kreatur auf Erden I SEE THE STARS COME OUT OF THE SKY "immer auf der Suche nach der Möglichkeit, nach dem Weg, das eigene Geschick unter Kontrolle zu bekommen" ALL OF IT WAS MADE FOR YOU AND ME "Ich weiß nichts, was ähnlich wäre wie diese Stimme. Ich denke, daß es die einsamste Stimme der Welt ist." (Dirk Scheuring, SPEX 1986) I'M TRYING TO BREAK IN OH I KNOW IT'S NOT FOR ME ein Märtyrer, der sich nach Liebe und Anerkennung sehnt CALLING SISTER MIDNIGHT I'M A BREAKAGE INSIDE sein Plan für später: wiedergeboren werden als schwarzer Pudel und an den Beinen der Mistress hochspringen CALLING SISTER MIDNIGHT YOU'VE GOT ME REACHING FOR THE MOON. 

"I just want to say that the most provocative friend of my adult life has been David Bowie and he has absolutely opened vistas to me where I have been able to assimilate information that has allowed me to survive and also to enjoy the world I'm in a lot more..." - 1988

1976 pflegen Bowies Tourmusiker Iggy Pop am Frühstückstisch anzutreffen, wie er beim Kaffee mit Brille auf der Nase die politischen Kommentare europäischer Zeitungen studiert. Der Mann, der am Ende einer Nacht exzessiven Konsums in Berlin von einer Telefonzelle aus, in die irgendein Witzbold ihn eingeschlossen hat, die Polizei anrufen muß, um sich befreien zu lassen, war immer einer der Intelligentesten der Delinquenten. The world's forgotten boy ist ein Informationsassimilator mit einem enzyklopädischen Gedächtnis für Kunst und Geschichte, einer, der Bücher als Freunde betrachtet, in einem Interview 1999 zählt er als letzte Lektüre auf: Charles Dickens, Voltaire, Victor Hugo, Marquis de Sade. "The History of the Decline and Fall of the Roman Empire" von Edward Gibbon ist eines seiner Lieblingswerke; sein leidenschaftliches Interesse an Römischer Geschichte lebt er 1993 auf dem Song "Caesar" als "Throw them to the lions"-Imperator aus. Römisch an ihm ist vor allem die Mischung aus Primitivismus und refinement.

Geschichte als Weg aus dem gefängnishaften Zeitgenössischen. Iggy Pop sammelt Stühle. Zu seiner Kollektion gehören ein Louis Seize-Stuhl und ein normannischer Thron. Er begann ein intensives Verhältnis zu Stühlen zu entwickeln, weil ihm lange Zeit nichts gehörte - seine Plattenverkäufe standen in gotterbärmlichem Gegensatz zu seinem Ruf -, und weil es ein gutes Gefühl war, wenigstens auf einem Stuhl sitzend sagen zu können: "Das Fernsehen blökt mich an, und die Leute betonieren alles zu und treiben mich verdammt nochmal in den Wahnsinn", aber dies ist mein Reich. Weltherrschaft ist Herrschaft über die eigene Welt, you see.
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
Indianischer Gesang, Schamanentrommeln, dann hebt sich der Vorhang für die Band in leuchtend roten dinner jackets im Sixties-Stil - und für den donnernden Beat. Nach einer Minute "Lust For Life" kündigt Josh Homme ihn an: "Ladies and Gentlemen, Mister Iggy Pop!" Die Antwort auf Iggys Erscheinen ist ungezügelte, manische Turbulenz. Sollte es die letzte Tour des Iggy Pop sein, dann ist sie ein würdiger Triumphzug. Vor diesem Abend habe ich Iggy Pop 5 x live gesehen, und es war jedes Mal nicht nur ein denkwürdiges Spektakel, sondern auch, siehe ganz oben, eine Art Anleitung zum Himmelssturm. Diese Band aber spielt / zelebriert die Songs von "The Idiot" und "Lust For Life" genau so, wie sie live klingen müssen, wenn man diese beiden Platten über alles liebt. Josh Homme genießt seinen Part als Hofzeremonienmeister wie ein Schneekönig, der seine süßeste Fantasie auslebt, zusammen mit Troy van Leeuwen, Dean Fertita, Matt Sweeney und Matt Helders reproduziert er den vibe all dieser Songs getreu und punktgenau, zwangsläufig schütteln sich ein paar Elemente aus dem Queens of the Stone Age-Hexensabbat aus dem Handgelenk - Killerversionen der Originale mit Queens-Stempel, ein verdammter Traum. Iggy kracht nicht mehr von allen Seiten durch die Bühnenbretter, doch der ungezähmte Genius seiner Five Foot One macht Lust For Life zum Thema dieser Nacht und aller Nächte wie noch nie zuvor. Eine so überwältigte Freude bei allen, auf der Bühne und davor, alle komplett betäubt und euphorisiert. Als wisse tatsächlich plötzlich die ganze Welt, was sie diesem Mann schuldig ist, und als wäre die Welt überglücklich, es ihn wissen zu lassen. Das Feingefühl, mit dem Josh Homme Bowies Präsenz in die Musik von "Post Pop Depression" eingearbeitet hat, abwesende Freunde sind anwesend heute nacht, "China Girl" wie ein ergreifender Salut. "David's friendship was the light of my life. I never met such a brilliant person. He was the best there is." - Iggy Pop 11:00 AM - 11 Jan 2016.

"FUUUUCK! BLESS YOU!", "WHOU! WHOU! FUCKING HELL!", er winkt jeder einzelnen Seele zu, vor "Funtime" läßt er Boxen näher an das Publikum schieben, damit er springen kann. Bei "Fall In Love With Me" teilt er das Meer und wandert durch den ganzen Saal. Michael Ruff, 1987: "Für Iggy Pop sind Konzerte in Hamburg seit jeher ein Heimspiel - unvergessen die kaum zu kontrollierende Begeisterung bei seinem ersten Hamburg-Auftritt vor zehn Jahren." An diesem Abend kulminiert die gegenseitige Zuneigung in ganzer Schärfe, Schmerzlichkeit und Schönheit. He is the best there is. 

Brust in Brand setzen, Instinkt, Verletzlichkeit, Scheitern, Würde, childlike flashes of excitement, Triumphieren on your own terms. Seine Musik / sein Leben war immer eine Antwort auf die Frage, wie man mit der Welt koexistiert. Die ganze Geschichte des Iggy Pop gewährt einen Blick ins Wesen des Menschseins, für den ich endlos dankbar bin. Sagte ich endlos? Auf "Post Pop Depression" sind Sterblichkeit und Endlichkeit nichts Unwirkliches mehr. Beliebter Schreibfehler hierzulande: "Zum Todlachen". Das Todlachen, ich hörte es auch schon. Es klingt raffelnd, rasplig, geschrotet, dann schaumig. Dann so, als hätte er glühende Kohlen mit dem Löffel gefressen, dann wieder scharfkantig, gezackt, durchbohrend, Schnitzmesser spuckend. Manchmal abgearbeitet, schachmatt. Vaterlos, mutterlos, gottverlassen. Dann dieses Lachen, das an Jahren zunimmt, während er es lacht, bis es vergreist, vereist, zerklirrt. Zum Todlachen. Nein, ich gehe vorerst nicht dahin zurück. CALLING SISTER MIDNIGHT CAN YOU HEAR ME CALL CAN YOU HEAR ME WELL CAN YOU HEAR ME AT ALL.


Setlist

Lust For Life
Sister Midnight
American Valhalla
Sixteen
In The Lobby
Some Weird Sin
Funtime
Tonight
Sunday
German Days
Gardenia
Nightclubbing
The Passenger
China Girl 
Encore: 
Break Into Your Heart
Fall In Love With Me
Repo Man
Baby
Chocolate Drops
Paraguay
Success

"Mass Production" was not played due to keyboard difficulties


"It's endearing and almost childlike, just the way he looks at the world with those big eyes." - Nina Alu, 2003