SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"
Oktober 2008
Muffin Man:
Lesenswert wäre der, der nicht einfängt, was an Nichtigem kursiert,
sondern Schrifttum darauf konzentriert, wohin der Mensch sich
idealerweise weiterentwickeln könnte. Pech für diesen "Auserwählten", in
den Augen seiner Mitwelt nur ein Narr zu sein...
ray05:
Es geht doch um das WIE [schreibe ich] und nicht um das WAS;
das wissen Sie doch als alter Dschäzzer; ich verstehe nicht, warum Sie
den NARREN negativ konnotieren ...
Muffin Man:
Ein Narr darf zwar alles sagen, er wird jedoch nichts bewirken.
Eben diese Wirkungslosigkeit ist seine Tragik.
easystreets:
Muffin Man, das stimmt so nicht. Der Narr ist eine Figur, der
unentschieden in der Mitte von zu verteidigenden Burgen sich aufhält und
in der Groteske sich entsprechend der Groteske verhält. Der Narr ist
auch der Weise, der Wahrsager und Wahrlacher, wie Nietzsche es seinen
Zarathustra sagen läßt. Eine Mittlergestalt. Bewirken? Aktiv wirken?,
passiv bewirken? Durch Dasein sein. Der Schamane ist eben so eine
Figur. Ein Substanzmischer und Sichäußerer. Ein Weltenwanderer, auch
zwischen denen der Zeit. Ein Mahner, kein Moraliger, einer, der den
Wahnsinn auf sich zieht und ihn personifiziert darstellt, so quasi ihn
aus der Welt zieht, stellvertretend; ein Reinigender, ein Heilsbringer.
Einer, der die Informationen aus der Vergangenheit gegenwärtig hält,
indem er sie heraufholt, wieder und immer wieder. Eben keiner, der ein
Ziel braucht zum Los- & Draufstürzen. Kein totaler-Krieg-Woller. Ein
Strukturaufweicher. Die Literatur ist voll davon. Nur personifiziert
muß er sein, voll sein von den Substanzen, zwischen denen er nicht mehr
unterscheiden kann, sie aber eint. Der Narr selbst ist nicht. Er hat
keinen Körper, er ist voll und ganz in seiner Funktion. Er ist die Summe
seiner Umgebung. Einer, der am 30. Januar 1933 laut lachend und
quiekend, Rad schlagend, weinend und schreiend Unter den Linden entlang
läuft, bis er von der SA eingefangen wird - das ist ein Narr. Was soll
er sein? Gott, der Allmächtige? Der mit dem Riesenschwert, der
eingreifen kann und es tut? Der Zeus, der Blitze wirft? Die tiefste
Anteilnahme dürfte sich im Narren personifizieren.
Aljoscha der Idiot:
Als
Revolutionär nach unten Jakob von Gunten. Dies war ein Literaturtip.
easystreets:
Spiegel-online
zieht einem das Geld aus der Börse wie fallende Kurse in New York der Welt. Ich
mach in Nullpunkten, mich betrifft die Sache also weniger. Ich fange mit Deinem
Buch an, was die Hausaufgaben betrifft, machen wir es so. Wenn man drüber
nachdenkt, über den Narren... es gibt keinen Gott, es gibt keinen Teufel und
von beiden keine Menschwerdung. Nur im Narren, im duplex, personifiziert
sich Beides, das Göttliche, Einende, wie das Teuflische, Teilende-Zweiende, und
das zugleich und gleichermaßen. Die einzige Figur, die sich verläßt, um leer
und geleert zu empfangen. "Der Offenbarung williges Gefäß", sozusagen.
Das ist die Reinform. Die Wirklichkeit ist teuflisch, göttlich und
närrisch-neckend zugleich, klar, was sonst. "Was liebt, das neckt
sich" kommt ja daher.
Die Figur hat
zumindest Einblicke hinter die Fassaden des Menschen... Das Besondere ist seine geistige Überlegenheit und seine Fähigkeit zur List. Seine
Streiche lassen ihn den Zorn auf sich ziehen. Er hat viele Gesichter und trägt
viele Namen, so wie auch Schelm oder Trickster. Er ist eine
Wandlungsgestalt, auch ein Schöpferischer. Eine Doppelnatur mit notorischer
Unintelligenz in seiner Kommunikation. Eine interessante Figur.
Aljoscha der Idiot:
Sehr. Eine Ur-Trickster-Gestalt ist Hermes / Merkur, listenreicher Gott der Übergänge
und der Transformation, und darum ist Hermeneutik ja auch so tricky, ständiges
Springen im Dreieck, dem klassischen Dreieck der Zeichenwissenschaft. Nach
Platon übernimmt Eros das hermeneuein,
das Hin- und Herlaufen als universaler Mittler, als irgendwo Dazwischenseiender
ist Eros ja auch Urbild des Philosophen. Sokrates mußte sterben, weil er alle
am Kragen packte und rief: was meinst
du eigentlich? Der Narr öffnet, was sich bereits verschlossen hat. Was der
göttliche Narr u.a. spiegelt: daß Auslegung immer auch mit performance zu tun hat. Indem er das Umpolen der
Wahrheitsreferenzen bis zur Karikatur treibt, macht er deutlich, wieviele
vermeintliche Wahrheiten Riesen auf tönernen Füßen sind. Wie komme ich vom
vorläufig Wahren ins wirklich Wahre?
Erstmal, indem ich auch die Kreativität des anderen verstehe, sein Genie, seine
Irrtümer, sein Genie im Irrtum. Hermeneutik als Kreativität im Nachvollzug, und
am wahrsten ist vielleicht die Interaktion selbst. Der Narr selbst tanzt ja,
wie die Schöpfer des Tarot als Hommage auch an Dionysos abzubilden wußten,
permanent am Abgrund. Aber er fällt nie, weil ihm der Abgrund nicht bekannt
ist. Der Narr galt in fast allen Kulturen als möglicher Botschafter des
Allerhöchsten.
Zu "Jakob von Gunten": Walser schrieb so, wie er dann starb. Mit
einem unverständlichen Lächeln rückwärts in den Schnee fallend. Unaufdringlich,
eindringlich, rätselhaft anmutig, befremdlich und faszinierend. Jakob ist
"gern unterdrückt" und "kann nur in den untersten Regionen
atmen", aber er weiß, daß das Institut Benjamenta, wo Diener geformt
werden sollen, ihn verdummt, und er läßt sich nicht verdummen. Er ist
sokratischer Hineintäuscher ins Wahre: "In mir lebt eine sonderbare
Energie, das Leben von Grund auf kennen zu lernen, und eine unbegreifliche
Lust, Menschen und Dinge zu stacheln, daß sie sich mir offenbaren." Seine
"Ungezogenheiten" enthüllen ihn als Selbsterzieher, als Außensteher,
dem eine Beziehung im klassischen Sinne nicht möglich ist, auch, weil er sich
eigentlich ständig auf einer anderen Stufe der Realität befindet, wo u.a. kein
zwanghaftes Auflösenmüssen vermeintlicher Paradoxien ihn noch interessiert.
Fräulein Benjamenta führt ihn in die geheimnisvollen inneren Gemächer des
Instituts, und der Gang führt auf eine winterliche Eisbahn. You can take it
from there. Seine geistige Überlegenheit, seine List, seine notorische Unintelligenz
in der Kommunikation, jedenfalls im Hinblick auf Verbindlichkeit: wir wissen
nicht einmal, was ihm das alles wert ist, nützt, schadet. Am Ende geht er
irgendwohin, Richtung Wüste. Scheint es. "Wir werden reisen. Schon gut.
Mir paßt dieser Mensch, und ich frage mich nicht mehr, warum. Ich fühle, daß
das Leben Wallungen verlangt, nicht Überlegungen." Vielleicht dachte
Rimbaud das auch, als er Dichtung abbrach und scheinbar sinnlose Wanderschaft
begann: "Gott geht mit den Gedankenlosen."
Diener sind auch in Liebesdramen häufig die Trickster.
Das Tarot
as we know it in Europa geht mindestens bis ins 14. Jahrhundert zurück, die
Vorstellungsinhalte der Bilder sind natürlich weitaus älter, Merkur / Hermes,
Pan, Dionysos, heidnische Mysterienkulte, Gnosis, The Green Man, Parsifal etc
etc., die erste und wichtigste Karte darin: The Fool, Le Mat, Der Narr.
Es geht um die "groteske Negation", immer leicht teuflisch
angehaucht, weil ordnungszersetzend. Die Narrenkappe wurde ja nicht von
deutschen Karnevalsdeppen erfunden, es ist eine altehrwürdige groteske
Gegenkrone bei Ritualen der Umkehrung.
Was all das mit Literatur zu tun hat? Wie könnte man überhaupt Shakespeare
verstehen ohne Verständnis für den Narren? Die Spitzen des jester's hat repräsentieren die Eselsohren, die man als guter jester früher noch trug. Wie gerade der
größte Narr, zeitweise tatsächlich ein Eselsdasein fristend, prädestiniert ist,
auserwählt ist, in das Kultgeheimnis der Isis eingeweiht zu werden, beschrieb
Apuleius im 2. Jhdt. in "Der goldene Esel" – ein phantastischer,
anarchischer, wunderbar burlesker, am Ende doch erhabener Roman.
Die Präsenz des Narren in der Literatur, praktisch unüberschaubar. Aber der
Narr stand immer essentiell für Redefreiheit und ist schon deshalb geradezu
Schutzheiliger der Literatur. Zu seinen besten Künsten gehörte das Rätsel.
Falls das untergegangen sein sollte: es lohnt, "Jakob von Gunten" zu
lesen.
(erstveröffentlicht / first published 05/2013)