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18.08.2006
Léo Malet? Überführte die hard-boiled-Tradition à la Hammett und
Chandler ins Nachkriegs-Paris, in dem die Stöckelabsätze nur so klackern, und
Nestor Burma, Malets main man, kommt
in bester film noir-Tradition vor
allem durch dieses Geräusch in seine Bredouillen. Malet trieb sich, bevor er
Burma erfand, bei Anarchisten und Surrealisten herum, was sich in seinem Stil
vor allem dann bemerkbar macht, wenn Burma mal wieder eins auf die Rübe
bekommen hat und langsam wieder zu sich kommt. Jeder Fall spielt in einem
anderen Pariser Arrondissement, und die deutschen Taschenbuchausgaben der
"Neuen Geheimnisse von Paris" (der Burma-Zyklus) enthalten
"Nachgänge", die im heutigen Paris Spurensuche betreiben. Wer Paris
liebt, wird bei Malet viel von dem finden, was er an Paris liebt.
Melancholisch, sarkastisch, sehr charmant, nicht gerade Weltliteratur, aber
ideal für den Zug nach Paris. Die
Legende sagt, daß die Schreibmaschine, auf der Malet tippte, früher Trotzkis
Sekretär gehört hat. Auch gut.
23.05.2008
Aus
Malets Autobiographie:
"Leute, die meine Bücher gern lesen, und Kritiker sagen, daß meine Krimis eine besondere 'Atmosphäre' hätten. Ein wenig wie bei Simenon, obwohl es nicht dasselbe ist – die ganze Simenon-Palette mit dem mit feinen Strichen gezeichneten Dekor. Simenon hat den Nebel für sich beansprucht, seine Bewunderer sagen fast, daß er ihm gehöre. Rühren Sie den Nebel nicht an! Simenon hat dieses Dekor an sich gerissen und spricht mit der ihm eigenen Sensibilität darüber. Ich habe dasselbe gemacht. Meine Sensibilität ist vielleicht nicht dieselbe. Simenon hat den Nebel nicht erfunden, ich habe Paris nicht erfunden."
Aber Malet sagt, er schrieb nicht mehr, als er merkte, daß Beton ihn nicht inspiriert. Im Grunde ein durch "die Fassade, hinter der sich etwas verbirgt" angeregter Autor, der verstummte, als er auch die hinter Beton agierenden Zeitgenossen nicht mehr zu verstehen glaubte. Und natürlich durch und durch Fetischist, zweites Movens seiner Inspiration.
"Leute, die meine Bücher gern lesen, und Kritiker sagen, daß meine Krimis eine besondere 'Atmosphäre' hätten. Ein wenig wie bei Simenon, obwohl es nicht dasselbe ist – die ganze Simenon-Palette mit dem mit feinen Strichen gezeichneten Dekor. Simenon hat den Nebel für sich beansprucht, seine Bewunderer sagen fast, daß er ihm gehöre. Rühren Sie den Nebel nicht an! Simenon hat dieses Dekor an sich gerissen und spricht mit der ihm eigenen Sensibilität darüber. Ich habe dasselbe gemacht. Meine Sensibilität ist vielleicht nicht dieselbe. Simenon hat den Nebel nicht erfunden, ich habe Paris nicht erfunden."
Aber Malet sagt, er schrieb nicht mehr, als er merkte, daß Beton ihn nicht inspiriert. Im Grunde ein durch "die Fassade, hinter der sich etwas verbirgt" angeregter Autor, der verstummte, als er auch die hinter Beton agierenden Zeitgenossen nicht mehr zu verstehen glaubte. Und natürlich durch und durch Fetischist, zweites Movens seiner Inspiration.
Zitate aus: Léo Malet, Stoff für viele Leben. Autobiographie, Edition Nautilus Verlag, Hamburg 1990
Von
meiner Mutter bleibt mir nur eine einzige Erinnerung, welche die
Psychoanalytiker sicher interessieren wird. Es war kurz vor ihrem Tod, sie war
erst 21. Der Arzt hatte ihr eben eine Spritze gegeben und schloß seinen Koffer.
Ich kam ins Zimmer. Es saßen ein paar Leute da, sie sagten nichts und nickten
mit dem Kopf, wie in einem Alptraum. Meine Mutter lag auf dem Bauch, ihr
Hintern war nackt und auf der weißen Rundung perlte ein Blutstropfen. Dieses
Bild ist mir geblieben. An meinen Vater kann ich mich überhaupt nicht erinnern.
Vom
Katechismusunterricht bleibt mir eine genaue und ziemlich seltsame Erinnerung:
Der Priester erzählte uns die Geschichte einer Dame, die gewisse kleine Sünden
beichtete. Jedesmal, wenn sie eine Sünde zugab, kroch eine kleine Schlange aus
ihrem Mund, fiel auf den Boden und wand sich. Plötzlich aber erschien zwischen
den Lippen der Beichtenden der Kopf einer Riesenschlange: eine große Sünde, die
sie zu beichten anfing. Sie wollte aber mit ihrem Bekenntnis nicht ganz heraus
und schluckte die Schlange wieder. Sofort stürzten sich die kleinen Schlangen,
die neben den Füßen des Beichtvaters lagen, auf die Frau und hopp! verschwanden
sie wieder im Körper der Sünderin. Ich konnte mir die Szene sehr plastisch
vorstellen. Es war fast wie eine Collage von Max Ernst. Die ganze Geschichte
hatte eine erotische Seite. Das Bild einer Schlange, die aus dem Mund einer
Frau kommt, ist verdächtig; es müßte vielleicht einmal analysiert werden.
In meinen
Büchern töten sich alle gegenseitig, ich kann aber keinem Zwerg etwas antun.
Ich bin
immer schon gern zu Fuß gegangen und in Paris war das etwas Besonderes. Man sah
erstaunliche Dinge. Zum Beispiel einen Epilepsieanfall auf dem Boulevard
Sébastopol um 2 Uhr morgens, Leute, die von irgendwoher kamen und gafften,
Nutten, kleine Gauner und ein Kranker, den es immer stärker schüttelte, der
stöhnte und sabberte. Wie Zabel in "Hafen im Nebel" sagt: "Man
sieht seltsame Dinge zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens". Ich wurde
auch Zeuge von Razzien im Montmartre, wo die Polizisten auf ihren Fahrrädern
aus allen Straßen auf den Place Pigalle kamen und die Leute vor sich
herstießen. Oder in Barbès, wo die Mädchen mit hochgezogenen Röcken davonliefen,
verfolgt von der Sitte und Polizisten in Uniform.
Auch in
meinem Zusammenhang hat man von anarchistischem Puritanismus gesprochen. Man
irrt sich, muß ich leider sagen. Ich bin kein Puritaner, ich finde nur, daß es
Sachen gibt, die man nur zu zweit gut machen kann, nicht zu dritt oder zu
viert.
"Er
ist tot, der große Ameisenbär, der große schwarze Stern, die Sonnenblume, der
Himmelsstürmer, der große Lichtträger, die große Fackel; leuchtend wie eine
verirrte Haarsträhne einer verliebten Frau, die große Fackel dieser
Jahrhundertwende mit ihren Gewitterstürmen des Denkens. Er ist in Fantomas'
Spital, Lariboisière, gestorben, wo Philippe Daudet am Samstag, dem 24.
November 1923, gegen halb fünf Uhr nachmittags, sterbend in einem Taxi
aufgefunden, eingeliefert worden war ... Man kann noch lange behaupten, die
Revolution sei nicht das Werk des einzelnen, ohne bestimmte Menschen aber gibt
es keine Revolution. Schlaft in Frieden, liebe Leute, feiert die 70 Jahre von
Elsa, hört dem monotonen Aragon zu, schaut fern, die große Sonnenblume liegt in
ihrem Sarg. Von nun an ist alles erlaubt."
Ich
schrieb diesen Nachruf, nachdem ich vom Begräbnis André Bretons 1966 nach Hause
kam.
Man
könnte doch ausgefallene Szenarien aus der französischen Geschichte schreiben.
Schon allein die Königin Margot wäre eine wahre Fundgrube. Sie war eines Tages
mit ihrem Liebhaber im Bett, als ihr Bruder, Heinrich III. von Navarra, ins
Zimmer stürzte und den Liebhaber mit Hilfe eines Dolchs aus ihr herauszog. Der
bedauernswerte Mann verlor sein Blut gleichzeitig mit seinem Sperma.
[Über
seinen Roman "Das Leben ist zum Kotzen]:
Mit Hilfe
von Träumen und persönlichen Erinnerungen, mit vielleicht verfehlten
Interpretationen des Verhaltens großer Krimineller habe ich versucht, einen
gewaltigen und brutalen Schrei nach Liebe auszustoßen, denn dieses Buch ist
letztlich ein Roman über Liebe und Leidenschaft, eine verzweifelte Suche nach
dem affektiven Absoluten, zwischen den Zeilen steht das allmächtige Bild der
Frau, die wie eine Kaiserin, Haare und Augen leuchtend vom tödlichen
Widerschein des Goldes, ihre mörderisch hohen Absätze in die Brust ihres Opfers
bohrt. Aus diesem Grund wäre es mir unangenehm, wenn man diesen Roman wegen
bestimmter heikler Passagen mit der jetzt so beliebten Supermarkt-Erotik
verwechseln würde. "Das Leben ist zum Kotzen" ist etwas anderes.
Ich habe
"archäologische" Romane geschrieben. Wissen Sie, wie das ist, wenn
Ihnen jemand sagt, daß es eine Straße, die Sie kannten, nicht mehr gibt?
Überall,
oder fast überall, stehen nun diese Scheißhaufen aus Stahl, Glas und Beton.
Blinde Fenster, die nie geöffnet werden, hinter denen man nur mit Mühe
lebendige Wesen vermutet.
Von der
Mitte der Grenelle-Brücke, die abgerissen und den Normen des Autoverkehrs
angepaßt wiederaufgebaut wurde, etwa in der Nähe des Ortes, an dem Lady Betham,
die Mätresse von Fantômas, in der Nacht den verhängnisvollen Fiaker anhalten
ließ, sehe ich diese neuen Tempel des Jahres 2000. Ich weine nicht über das
Verschwinden der Citroën-Fabrik, aber ich muß an dieses ganze Netz von
verschwundenen kleinen Straßen denken, an dieses mythische Labyrinth des
Volksromans, wo Theseus schließlich dem Minotaurus begegnete, der ihn mit dem
ganzen Viertel zugleich auffraß.
Für ein
Buch von 200 Seiten benötigte ich mindestens 800 maschinengeschriebene Seiten.
Ich feilte immer aus, war nie zufrieden. Wegen eines durchgestrichenen Wortes
schrieb ich die ganze Seite nochmal. Ich habe später erfahren, daß Dashiell
Hammett dieselbe Manie hatte.
Ich weiß
nicht warum, aber wenn ich ans Wort "Ende" kam, war es immer fünf Uhr
morgens.