Diskussion im SPIEGEL
ONLINE-Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"
September 2007
KLMO:
Nietzsche: "Wir haben die Kunst, damit wir
nicht an der Wahrheit zugrunde gehen."
kurzundknapp:
Vielleicht sollte man Nietzsche zunehmend unter
poetischen Aspekten lesen...
Aljoscha der Idiot:
Auch das, aber ich lese
Nietzsche mittlerweile vor allem als genialen Psychologen. Er ist eigentlich
dort am interessantesten, wo es nicht um die großen umstrittenen Themen und
philosophischen Entwürfe geht. Nietzsche ist eine Quelle, aus der die großen
Entlarvungen, aber vor allem die kleinen, verblüffenden Entdeckungen nur so
sprudeln, für mich immer dann am spannendsten, wenn unter der beißenden Sprache
gleichsam widerwillig der am Zwischenmenschlichen leidende Humanist kenntlich
wird.
Vielleicht könnte man auch einmal forschen, inwieweit auch das "Poetische",
wie Sie sagen, also auch seine Lust an der Sprache, dafür verantwortlich ist,
daß er zuweilen so danebenhaut. Wenn er selbst meinte, wir werden Gott nicht
los, solange wir an die Grammatik glauben: vielleicht wurde er manches
Fehlurteil nicht los, weil die Formulierung ihn verführte. Aber für das
Füllhorn seiner Psycho-Poesie verzeihe ich ihm vieles. Man kann an Nietzsche
verzweifeln: an seinen groben Irrtümern, aber auch an seinen unzähligen
Wahrheiten.
kurzundknapp:
Psycho-Poesie, ja, das ist es! Die Klarheit
seiner Wahrheiten und seiner grotesken Irrtümer kommt aus seiner
Überempfindlichkeit für das "Draußen", aber eben auch der Sprache. Und
verzweifeln muß man geradezu an ihm.
KLMO:
Nietzsches Werke können nicht isoliert von
seiner Krankheitsgeschichte betrachtet werden. Sein Dasein war überwiegend ein
Leidensweg von unvorstellbarer Qual. Man lese dazu von Gerhard Venzmer
"Genius und Wahn". Dies erklärt einiges. Auch sehr empfehlenswert von
Venzmer "Krankheit macht Weltgeschichte."
Aljoscha der Idiot:
Frequenz, Fiebrigkeit
und Furor seiner Schriften wurden gegen sein Ende hin immer rasanter – gewiß ein
Symptom.
Übrigens hat ja in "Schuld und Sühne" Rodion Raskolnikow diesen Traum
vom geschlagenen, erschlagenen Pferd, dessen blutüberströmten Kopf er
zusammenbrechend umarmt; Nietzsches Kollaps in Turin, das Pferd umarmend,
zusammenbrechend, ist es der Zusammenbruch des Übermenschen, der Zusammenbruch
von der fortgesetzten Anstrengung, im Grunde Mitleid mit jeder Kreatur zu
haben... sieht Nietzsche sein eigenes Schicksal in der Szene... ist es die
letzte Panik, in der sich der wahre Nietzsche offenbart, der die ganze Zeit
nicht in Raskolnikows Theorie, sondern in Raskolnikows Traum gelebt hat... wer
weiß.
Kenne Venzmer nicht, aber Nietzsches Pferdeumarmung wirkt auf mich wie
Nijinskys "Hochzeit mit Gott", dieser letzte, erschreckende Auftritt
des "Gott des Tanzes" in einem Schweizer Hotel, vor vielleicht 200
Menschen, in dem er es laut Augenzeugen offenbar vermochte, den Wahnsinn des
Weltkrieges einzufangen: "Er schien den Saal mit allen Schrecken der leidenden
Menschheit zu erfüllen." - schreibt Romola, seine Frau, in ihrer
Biographie. Und Nijinsky schrieb in sein Tagebuch: "Aber ich fühlte, ich,
der sie alle liebte, daß ich von niemandem geliebt wurde." Und danach
verabschiedete er sich in die jahrzehntelange Dunkelheit, einer, der vielleicht
immer schon gefühlt hat, daß er von allen anderen weit entfernt war, zu weit
entfernt.
Shaftesbury, der Philosoph, hat einmal gesagt: allein schon dadurch, daß Hobbes
sich im "Leviathan" so viel Mühe gibt, der Menschheit Gutes zu tun,
widerlege er seine eigene These vom Menschen als des Menschen Wolf. Nun ist es
für die extrovertiert am Zustand der Menschheit Leidenden vielleicht manchmal
nur ein kleiner Schritt vom Rousseau zum Robespierre; für die Introvertierten
aber, die Nietzsches, Nijinskys, Hölderlins, bleibt vielleicht nur diese
letzte, verzweifelte Geste, und dann der Schutz der Umnachtung. Ich weiß, daß
es bei Nietzsche recht eindeutige pathologische Befunde gibt, aber vielleicht
ist trotzdem die Frage, wie lange er es auch ohne diese noch ausgehalten hätte
in dieser Mischung aus universalem Mitleiden - und selbst das wie Paulus
Beschimpfte muß man verstanden haben, um es so beschimpfen zu können - und der
Art von Einsamkeit, die er atmete.
Da Sie ja das Nietzsche-Zitat über die Kunst brachten, vielleicht noch am
Rande: Ich halte Nietzsches Konzept apollinisch / dionysisch nach wie vor für
eine sehr schöne Metaphorik, wenn man sie sozusagen der Kunst entwendet: ein
guter Ansatz, um das Wechselspiel im individuellen Bewußtsein zu beschreiben,
das, um es so allgemein wie möglich zu formulieren, stets zwischen Abgrenzung vom
"Anderen" und Lust am "Anderen" oszilliert.
KLMO:
Siehe auch Nietzsche und der Antichrist. 1889 in
einen Brief an Jakob Burckhardt: "... zuletzt wäre ich sehr viel lieber
Basler Professor als Gott", mehrfach unterzeichnete er mit "Der
Gekreuzigte".
Oder: "Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!"
Einen völlig anderen Nietzsche erleben wir bei der Begegnung mit Lou Salomé. Der gehemmte Nietzsche verehrte sie, konnte sich ihr jedoch nicht erklären.
Ergo, wer ein Extrem beschwört, ist schon verdächtig. Die Dualität in uns kann
nicht aufgehoben werden.
Nietzsche litt an den Folgen einer Syphilisinfektion. Thomas Mann vermutet, er
habe sich diese Krankheit während des Besuches in dem Kölner Bordell zugezogen;
er stellt diese Geschichte in den Mittelpunkt seines "Doktor
Faustus".
Schon mit 35 Jahren gibt er die Professur an der Universität in Basel aus
Gesundheitsgründen ab. Overbeck im Frühjahr 1879 über den Zustand von
Nietzsche: "Anfall über Anfall der heftigsten Kopf- und Augenschmerzen mit
tagelangen Erbrechen - es war vorüber mit all seiner Geduld, mit all seinem
Lebensmut!" Und dieses ständige Auf und Ab ging 10 Jahre bis zu seinem
Zusammenbruch weiter so... Erstaunlich seine Energie des Schaffens. In
dieser Zeit ist er gejagt und gehetzt von dem unstillbaren Trieb nach
Erkenntnis, ein rastloser "Abenteuerer des Geistes" und dies unter
den ärmlichsten Verhältnissen. Krankheit und sein Schaffenstrieb sind nicht zu
trennen.
Nietzsche war eher ein Kulturkritiker, als ein Philosoph im geläufigen Sinn,
vor allem ein Sprachgenie.
Anders die Krankheitsgeschichte bei Hölderlin, wo man zeitweise sogar vermutet,
dass er eine Geisteskrankheit nur vortäuscht! (Schizophrenie)
Hölderlin: "Der Menschen Worte verstand ich nie. Im Arme der Götter wuchs ich
groß." Man meint, hier eher eine schon heitere Gelassenheit zu spüren,
entrückt in eine andere (bessere?) Welt!
Aljoscha der Idiot:
"Du gehst zu Frauen? Vergiß die
Peitsche nicht!"
Einen völlig anderen Nietzsche erleben wir bei der Begegnung mit Lou Salomé...
Das Zitat ist eben der bekannte Nietzsche. Es
gibt aber auch Äußerungen wie diese, aus "Morgenröte":
"Weiberfeinde. – Das Weib ist unser
Feind – wer so als Mann zu Männern spricht, aus dem redet der ungebändigte
Trieb, der nicht nur sich selber, sondern auch seine Mittel haßt."
Oder:
"Die Frauen sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, ihr Geliebter
möchte ihrer nicht wert sein; die Männer sind es, welche bei der Vorstellung
erbleichen, sie möchten ihrer Geliebten nicht wert sein. Solche Männer, als die
Menschen der Zuversichtlichkeit und des Machtgefühls für gewöhnlich, haben im
Zustande der Passion ihre Verschämtheit, ihren Zweifel an sich; solche Frauen
aber fühlen sich sonst immer als die Schwachen, zur Hingebung Bereiten, aber in
der hohen Ausnahme der Passion haben sie ihren Stolz und ihr Machtgefühl – als
welches frägt: wer ist meiner würdig?"
Nietzsche glaubte an eine genuine Macht der Frau, die ihr gerade ihre
Weiblichkeit verlieh. Dazu gibt es z.B. eine Äußerung in "Jenseits von Gut
und Böse", in der er feststellt, daß es einen Widerspruch gebe zwischen
der "Emanzipation des Weibes" und dem Einfluß der Frau, der seit der
Französischen Revolution in Europa de facto abgenommen habe: "Es ist
Dummheit in dieser Bewegung, eine beinahe maskulinische Dummheit, deren sich
ein wohlgeratenes Weib – das immer ein kluges Weib ist – von Grund aus zu
schämen hätte". Für seine Zeit hatte Nietzsche ja recht: das Zeitalter der
Regentinnen, auch der großen Kurtisanen, deren Einfluß und Ansehen sie ja
meilenweit von gewöhnlichen Prostituierten enthob, war vorbei.
Im Grunde spricht also schon aus Äußerungen Nietzsches, daß er ein Frauenideal
hatte, dem er sich nicht gewachsen fühlte, insofern ist der vor Lou
Andreas-Salomé so Gehemmte gar nicht so sehr der "völlig andere"
Nietzsche. Und es gibt ja auch dieses berühmte Foto, auf dem eben sie die
Peitsche in der Hand hat (mit Nietzsche und Paul Rée vor dem Karren, auf dem
sie kniet).
Aber insgesamt, zu Ihrem Punkt:
Ein schüchterner Mann, ein von Krankheit zerrütteter Mann. Gewiß. Und so
zweifellos Lebensumstände ein Werk prägen, so sehr muß man sich an einem
bestimmten Punkt von diesem eigentlich trivialen Wissen auch wieder
verabschieden. Sartre schielte, aber er sah klar. Stefan Zweig war keine Frau.
Aber der Punkt ist schon interessant: konnte Kant etwas wie den Kategorischen
Imperativ nur deshalb entwickeln, weil er nie einen Fuß aus Königsberg heraus
gesetzt hat? Nein. Aber die Strenge der Kantschen Pflichtethik, der sogar die
"Lust" am moralisch Guten verpönt ist - hat dieser ganze
atmosphärische Hauch des Kantschen Werkes eine Begründung in der Art, wie
dieser Mann lebte, mit einem so minuziös geregelten Tagesablauf, daß die
Versicherungen, er konnte bei Tisch auch mal sehr lustig sein, immer etwas
Rührendes haben? Dann gäbe es einen Zusammenhang, aber er ist völlig anders als
bei Nietzsche: kein wildes Anschreiben gegen die Beengungen der Menschheit aus
der eigenen Beengung, dem eigenen Leidensdruck heraus, der geistige Gang in die
befreiende Bergluft sozusagen; sondern ein wohltemperiertes Schreiten auf dem
knarrenden Holz eines kleinen Zimmers, "Hmja, hmja, hier kann man
leben". Daß der Kategorische Imperativ ein Raum ohne Möbel ist, bleibt
eine andere Sache.
KLMO:
Zurück zu Nietzsche. Auch beim Übermenschen wird
überkompensiert, indem Nietzsche das Gegenteil von Selbsterniedrigung und
Kleinmacherei propagiert. Du bist nicht niedrig und klein, ausser, man redet
dir das ein!
hans-werner degen:
Was für ein entsetzlicher Irrtum Nietzsches, der
damit die sich freiwillig Kleinmachenden der Welt, die Gandhi, M.L. King,
Mutter Theresas und alle anderen, die sich für viele opferten, klein macht, sie
denunziert.
Und kein Wunder, dass sich die sich Überhöhenden, die Herrschenwollenden in der
Welt mit ihm verbunden wähnen.
Aljoscha der Idiot:
Da fällt mir Rasumichin in
"Schuld und Sühne" ein: das ganze geheimnisvolle Problem des Lebens
auf zwei Druckseiten abgetan.
Ja, so kann man die Komplexität und den Reichtum eines Lebenswerks mit zwei
Federstrichen abtun. Daß Menschen aus völlig anderen Gründen Nietzsches Werk,
bei aller kritischen Distanz in den gebotenen Punkten, schätzen können, kommt
Ihnen nicht in den Sinn? Zum Beispiel, weil er ein Todfeind bornierter
Selbstgewißheit war. Weil er selbst ein von Zweifeln zerrissener Suchender war,
dem jede zu einfache Lösung suspekt war. Den gesamten Nietzsche auf
Übermenschensehnsucht zu reduzieren, ist genauso unsinnig, wie in Dostojewskij
immer nur den suchenden Christen sehen zu wollen. Nietzsche schätzte
Dostojewskij fast maßlos ("einer der schönsten Glücksfälle meines
Lebens", "ein Psychologe, mit dem ich mich verstehe") und sicher
nicht, weil er in Dostojewskij nur das sah, was Sie sehen, den auf den Urgrund
des Glaubens tauchenden orthodoxen Christen; vielmehr haben sowohl Nietzsches
Philosophie der Perspektivität, in der sich ständig Gegensätze berühren, als
auch seine "Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens" in
Dostojewskij ein literarisches Pendant, auch das ekstatische Existenzgefühl der
Charaktere Dostojewskijs.
Wenn Sie dabei stehen bleiben, Nietzsches Werk
ausschließlich als Kompensationsprodukt anzusehen, können Sie sich übrigens
nicht über die psychologische Deutung des Paulus durch Nietzsche beklagen, in
der das Christentum ebenfalls als Kompensationsprodukt erscheint.
hans-werner degen:
ad 1) Für mich ist Nietzsche als Poet einer der
Großen der Welt! Und er schreibt in einem wundervollen Deutsch.
ad 2) Wer als Philosoph trompetet, tut das, weil er viel heiße Luft in seinen
Gedanken hat, die er mit Trompetenklang überdecken will.
ad 3) Wenn ein Diktator einen Philosophen schätzt... nun ja... vor falschen
Anbetern wird man nie sicher sein... wenn er aber zur Lektüre vieler Herrscher
wird, fang ich an nervös zu werden... dann stimmt was nicht.
Aljoscha der Idiot:
Übrigens ist auch Jesus
nicht sicher vor falschen Anbetern. Nietzsche wünschte sich, daß er sein Werk
auf Französisch hätte schreiben können, Zitat: "damit es nicht als
Befürwortung irgendwelcher reichsdeutscher Aspirationen erscheint".
Thomas Mann, 1927: es gelte, bei Nietzsche "das Pathos großer europäischer
Humanität, das seines Wesens Kern bildet, klar herauszubilden und gegen wüste
Mißverständnisse zu verteidigen".
Nietzsche wetterte gegen die Deutschen, weil er ein Europäer war: Hitler ist
Zusammenfassung all dessen, was Nietzsche verachtete. Er hätte Nazideutschland verachtet:
"Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, daß
er sie tut: denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste
wohltut."
"Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, - das ist
deutsche Tugend. – Lange vor Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte
Luther aus derselben Empfindung gesagt: es müsse ein Wesen geben, dem der
Mensch unbedingt vertrauen könne, - es war sein Gottesbeweis, er wollte, gröber
und volkstümlicher als Kant, daß man nicht einem Begriff, sondern einer Person
unbedingt gehorche..." (Morgenröte).
"Als die Deutschen den andern Völkern Europas anfingen interessant zu
werden – es ist nicht zu lange her -, geschah es vermöge einer Bildung, die sie
jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem blinden Eifer abgeschüttelt
haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wußten sie nichts
besseres dagegen einzutauschen als den politischen und nationalen Wahnsinn.
Freilich haben sie mit ihm erreicht, daß sie den andern Völkern noch weit
interesssanter geworden sind, als sie es damals durch ihre Bildung waren; und
so mögen sie ihre Zufriedenheit haben!" (Morgenröte)
Nietzsche spielt eingangs auf den Weimarer Geist an und meint mit den
"großen Dingen" eher Goethe, den er, trotz seiner Parodie in einem
Gedicht, als Ausnahmeerscheinung unter den Deutschen verehrte und sich wünschte,
er könne Goethe gegen "ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufe
einhandeln". Und die Parodie hat schon ihren Sinn, wünscht Nietzsche doch
eben das Vergängliche gegenüber dem Unvergänglichen aufzuwerten. Und letztlich
ist für Nietzsche Goethe "kein deutsches Ereignis, sondern ein
europäisches". Nietzsche bewunderte Goethe, weil hier einer – sich selbst
schuf. Wer verkennt, daß Nietzsche in dieser Linie des Humanismus steht, in der
von Pico della Mirandola über Shaftesbury zu Goethe die selbstschöpferische
Kraft des Menschen betont wurde, der wird Nietzsche immer Unrecht tun.
Daß Nietzsche sich mit Begriffen und Wendungen angreifbar gemacht hat, darüber
herrschen keine zwei Meinungen. Aber nie hat Nietzsche z.B. den "Willen
zur Macht" im Sinne eines Hitler als Macht über andere verstanden; im
Gegenteil hätte dieser "Wille zur Macht" als Macht des
ewig-sich-selber-Schaffens einer solchen Vereinnahmung durch eine schreckliche
Ideologie diametral entgegengestanden.
hans-werner degen:
Wenn er das nicht
wollte: Warum schrieb er es so, dass es das Gegenteil bewirkte?
Seine Lektüre hat mir den Weg zu Lenin geöffnet...
Und viele andere erfuhren das gleiche......
Das ganze Werk (und ich hab es gelesen) hat was Sado-Masochistisches an sich!
Bei Nietzsche wird viel Leeres durch den Pathos
überdeckt.
tzscheche:
... deshalb verstand er sich auch so gut mit
Wagner!
Aljoscha der Idiot:
Also, ich kann weder
Lenin noch Wagner etwas abgewinnen, und mir ist auch nicht klar, mit welcher
Notwendigkeit man von Nietzsche zu Lenin kommen muß, das scheint mir dann schon
an Dingen zu liegen, die mit Nietzsche selbst nichts mehr zu tun haben, außer
im Sinne des von Nietzsche selbst Diagnostizierten.
Wenn Sie den gesamten Nietzsche gelesen haben, dann müßten Sie doch auch in der
Lage sein, auch die Binnenstruktur dieses Gesamtwerkes als repräsentativ dafür
anzusehen, wie es bei Nietzsche vornehmlich darum geht, nicht auf falsche
Tröten hereinzufallen, selbst wenn es die eigenen waren, wie "der Fall
Wagner" zeigt.
"Wie? wäre es wirklich die erste Tugend eines Vortrags, wie es die
Vortragskünstler der Musik jetzt zu glauben scheinen, unter allen Umständen ein
hautrelief zu erreichen, das nicht mehr zu überbieten ist? Ist dies zum
Beispiel, auf Mozart angewendet, nicht die eigentliche Sünde wider den Geist
Mozarts, den heiteren, schwärmerischen, zärtlichen, verliebten Geist Mozarts,
der zum Glück kein Deutscher war, und dessen Ernst ein gütiger, ein goldener
Ernst ist und nicht der Ernst eines deutschen Biedermanns ... Geschweige denn
der Ernst des "steinernen Gastes" ... Aber ihr meint, alle Musik sei
Musik des "steinernen Gastes", - alle Musik müsse aus der Wand
hervorspringen und den Hörer bis in seine Gedärme hinein schütteln?... So erst
wirke die Musik! - Auf wen wird da gewirkt? Auf etwas, worauf ein vornehmer
Künstler niemals wirken soll, - auf die Masse! auf die Unreifen! auf die
Blasierten! auf die Krankhaften! auf die Idioten! auf Wagnerianer!"
(Nietzsche kontra Wagner)
Jemand (Emerson) sagte mal, wenn man Montaignes Worte schneiden würde, wie
müßten sie bluten wegen ihres Gefäßreichtums. Bei vielen Sätzen Nietzsches kann
man Herzrasen feststellen, klar. Er hyperventiliert, und ich kann verstehen,
daß der Punkt kommt, wo man genug hat. Ich kenne ihn selbst. Aber es gibt auch
einen völlig anderen Nietzsche, einen merkwürdig sanftmütig dahingleitenden
Tonfall, das Timbre eines Geistes, der einfach schon zu viel gesehen hat.
"Leere" kann ich da nicht finden - die muß schon gewaltsam dorthin
projiziert werden. Ich sehe da eher Fülle, die nicht weiß, wohin mit sich.
Warum Nietzsche so schrieb, wie er schrieb, wie könnte sich jemand anmaßen, das
zu beantworten. Und zwei Leser machen zwei verschiedene Bücher aus einem Buch –
völlig normal.
tzscheche:
Hesse und Nietzsche:
In Hermann Hesses Figuren hat vieles von
Nietzsches Streben nach Übermenschlichem aus schierer Verzweiflung an
der Existenz Eingang gefunden. Jedoch ist bei Hesse der Wille zur Überwindung
alles Irdisch-Profanen quasi rückgekoppelt und geerdet durch das Hadern der
Protagonisten, ihrem Skrupel vor der finalen Abkehr von Konvention und Moral.
Man nehme Harry Haller, den Steppenwolf, der die bürgerliche Bigotterie
verachtet und gleichzeitig das Ambiente bürgerlicher Wohnstuben sakral
verklärt, der unwiderstehlich angezogen wird von Transzendenz und Martyrium und
gleichzeitig zittert aus Angst vor dem Schmerz.
Hesse weiss zwischen dem Glanz der Idee und dem Wahnsinn ihrer Realisierung
fein zu unterscheiden.
Diese Differenzierung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen egomanem und
individualistischem Handeln, zwischen Amoralität und Denkfreiheit wünscht man
sich auch von so manchem Adepten Nietzsches. Denn oft wird heute - nach meiner
Erfahrung - in der "Umwertung der Werte" ein allzu wörtlicher
Pragmatismus an den Tag gelegt...
[der Vorsicht halber sei ergänzt, dass meine Erfahrungen natürlich keinen
Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben.]
Aljoscha der Idiot:
Die Abkehr von einer
gewissen Moral ist nicht Abkehr von jeglicher Moral. Sie können das aus
Nietzsches Eintreten für den Genius des Selbstschöpferischen nicht einfach
wegdenken. Der Hinweis auf Shaftesbury, der sogar einen dem Menschen eigenen,
nicht hintergehbaren "moral sense" annahm, und dabei den
"Virtuoso" anstrebte, der seine Passionen und Emotionen analog zum
Künstler, der ein Kunstwerk schafft, in Harmonie bringt, oder der Verweis auf Nietzsches
Bewunderung Goethes, der von Shaftesbury übrigens den Begriff der "inneren
Form" gestohlen hat, waren dann vielleicht weniger hilfreich, als ich
hoffte. Bei allem Aufruhr im Duktus Nietzsches, zu dem auch gehört, die eigene
"innere Form" stets zu erneuern, sehe ich, daß er zugleich eine Art
von Anstand einfordert, mit der er den Menschen sichtlich überschätzt, woraus
wiederum ein Teil seiner Verzweiflung rührt.
Schon, daß Sie Nietzsche einen Wunsch zur Überwindung des
"Irdisch-Profanen" unterstellen, ist bei seiner Liebe zum Irdischen
seltsam, aber nun gut: ich bin kein "Adept" Nietzsches. Passagen, ob
derer ich Nietzsche 10mal in die Ecke gefeuert habe: geschenkt; von
"Nietzsche und der Faschismus" habe ich sogar ein Exemplar mit
Widmung, der Verfasser war mein Professor. Ich sage nur, es lohnt sich,
Nietzsche trotz allem 10mal wieder aus der Ecke herauszuholen.
hans-werner degen:
Da werden wir nie d'accord und Tucho beschrieb
das was ich meine wesentlich prägnanter als ich das kann!
Aljoscha der Idiot:
Auch Tucholsky ist ja sichtlich
zwiegespalten. Indes: "Und Flesch hat richtig empfunden, dass man ihn nun
bald gegen seine Anhänger in Schutz nehmen muß – wohin ist dieses Werk
gerutscht! Sähe er das, schaudernd wendete er sich ab." - !!
Schreibt Ihr Tucho. Welchen Schlag erlitt dagegen Tucholskys Bewunderung für
Hamsun? Ist diese offene Verirrung eines (großen) Schriftstellers wie Hamsun
nicht viel schlimmer, als der Mißbrauch eines Schriftstellers, der sich gegen
diesen Mißbrauch verwahrt hätte?
kurzundknapp:
Da haben Sie völlig
recht, und das nicht nur für Tucholsky! Hamsuns Nazitum ist ekelerregend!
KLMO:
In ihren Ekel müssen sie aber Millionen Deutsche
mit einbeziehen, incl. die Intelligenz. Außer, man war Kommunist oder Jude.
Hier wird im Nachhinein unglaublich geheuchelt.
In der Spiegelausgabe 38/2004 liest man über Heidegger folgende bemerkenswerte
Passage: Als Jaspers im Mai 1933 die Professorenfrage stellte, auf welche Weise
wohl "ein so ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren
solle", bekam er von Heidegger die Antwort: "Bildung ist ganz
gleichgültig... Sehen Sie nur seine Hände an."
Dass Jaspers solch eine "provozierende" Frage überhaupt stellte,
erklärt sich daraus, dass er mit einer Jüdin verheiratet und entsprechend
sensibilisiert war.
Aljoscha der Idiot:
Bezeichnend und verräterisch
im Hinblick auf "die Intelligenz" schon die Stimmung in Davos 1929,
bei der Disputation zwischen Heidegger und Cassirer, die als showdown empfunden
wurde, bei dem die jungen Studenten auf der Seite des "radikalen"
Heideggers standen, der liberale Geist Cassirer dagegen mit einer
Kabaretteinlage verhöhnt wurde.
hans-werner degen:
Was mir heute fehlt bei den Büchern, wurde mir
auf dem Flohmarkt schmerzlich bewußt: Es gibt keine Prediger des Humanismus
mehr! Da hab ich jetzt einen Band Essays von Friedrich Heer gefunden.
Unorthodoxer Katholik und Streiter für den Humanismus nach 1945. Aufsätze, Gedanken die heute wichtiger sind denn je!
Mit Ekel betrachtet er die heutigen Gruppen, die den Humanismus im Schild
führen und gnadenlos zusehen können, wenn in Staaten nach ihrem Gusto die
Menschen schikaniert und gemordet werden. Sein Credo (katholisch geprägt): Nie dürfen Menschen Menschen leiden lassen.
Aljoscha der Idiot:
Gewiß. Dieses
"katholisch geprägte" Credo Heers enthält darum auch ein gerüttelt
Maß an Kirchenkritik: "Der Klerus ging noch in jeder Geschichtsstunde mit
jedem Machtherren ins Bett."
Hitler zahlte ja bis zuletzt Kirchensteuer; Heer sagt: "Adolf Hitler sieht
bis an sein Lebensende mit tiefem Respekt auf die römische Kirche, auf ihre
tausendjährige Kunst der Herrschaft, Kunst der Propaganda, Kunst der
Seelenführung." (aus: "Mit Gott und dem Führer"). Alles auf
Nietzsche schieben, geht auch mit Heer nicht.
Nochmals: man kann Nietzsche richtig verstehen, wo er irrt und fehltritt; man
kann ihn falsch verstehen; und man kann ihn sogar noch an der falschen Stelle
falsch verstehen. Der "Übermensch" ist von Nietzsche zu keiner Zeit
in irgendeiner Form "rassisch", ja nicht einmal phänotypisch irgendwie
klassifiziert. Bei der "Übermensch / Wille zur Macht"-Konstruktion geht
es um eine Höherentwicklung, die Härte gegen sich selbst verlangt, nicht gegen
andere! Der Übermensch ist kein Herrenmensch. Es gibt andere Äußerungen
Nietzsches, die viel, viel dubioser sind.
Und bittschön: Nietzsche wandte sich gegen
den Antisemitismus, als ein Richard Wagner diesen noch zur vaterländischen
Tugend erhob. Die Übermensch-Idee kreist um Formen von Unabhängigkeit; es gibt
dann im Werk verstreut Spuren, die in besagte dubiose Richtungen führen. Die
Crux ist aber einseitige Exegese, denn wie Sie sehen, kann man auch einen
katholisch Geprägten als den vehementesten Kritiker der katholischen Kirche
erleben; ebenso lassen sich all diese Belege für eine inhärente Verantwortung
Nietzsches mit Nietzsche selbst widerlegen.
Wenn Sie zum Beispiel jene Reflektionen über das Mitleid lesen, wo Nietzsche
gerade im zur Schau gestellten Unglück, im "Durst nach Mitleid" einen
"Selbstgenuss" aufspürt, schreibt er: es (das Mitleiderregenwollen)
"zeigt den Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten
lieben Selbst". Das mag manchem als ein unbotmäßiger Ort erscheinen, diese
Rücksichtslosigkeit aufzuspüren, jedoch: klingt das wie eine Passage, die
generell, auch an anderen Orten, dieser "Rücksichtslosigkeit des eigensten
lieben Selbst" positiv gegenübersteht? Nein, man kommt nicht weit damit,
den "Übermensch" zum rücksichtslosen Egomanen zu stempeln. Nietzsche
will "Mitfreude", nicht "Mitleid", weil er Lebensbejahung
will, nicht Leidvermehrung.
Und hier redet Nietzsche direkt mit Hitler:
"Das Böse hat immer den großen
Effekt für sich gehabt! Und die Natur ist böse! Seien wir also natürlich! –
so schließen im geheimen die großen Effekthascher der Menschheit, welche man
gar zu oft unter die großen Menschen gerechnet hat."