Rest in Peace, Ray.







Antirat zieht um:
-> Das Cabinet des Christian Erdmann





Mittwoch, 15. Mai 2013

Sticky Fingers















Die erste LP, die ich in meinem süßen jungen Leben von meinem eigenen Geld kaufte.

Ich war gerade 12 geworden. Unter den ersten 20 Stücken, die ich mit meinem neuen kleinen Grundig C 410 Automatic aus dem Radio aufgefangen hatte, war "Street Fighting Man". Das Stück hypnotisierte mich. Der Song war so anders als die anderen, so mächtig, daß mir das Herz hämmerte in einem Leib, der Dinge tun wollte, die er noch nie getan hatte. Die letzten 45 Sekunden von "Street Fighting Man" beendeten meine Kindheit.

Heute weiß ich, daß Keith Richards den unfaßbaren Klang von "Street Fighting Man" dadurch erreichte, daß er sich mit seiner Akustikgitarre vor einen kleinen Philips-Kassettenrekorder setzte und die Aufnahme absichtlich übersteuerte. Daß die donnernden, massiven Drums und die seltsam schleifende cymbal von Charlie Watts vor demselben Rekorder auf einem 1930s toy drum kit gespielt wurden, das er buchstäblich aus einem Koffer zauberte. Daß Richards auch diese insistierende, ab- und wieder aufsteigende Bass-Linie spielt, die dir das Versprechen abnimmt, die Spannung auszuhalten bis ans Ende deines Lebens. Daß dieser fremdartige drone von Brian Jones auf Sitar und Tamboura gespielt wird. Daß Jagger die Strophen im Signalcharakter der Quarte singt, dem Intervall von Polizeisirenen. Daß der Aufruhr, den dieser Song in mir verursachte, nie mehr rückgängig zu machen war.

Aber es waren diese letzten 45 Sekunden, wenn dieser strange wailing sound einsetzt [Dave Mason auf einem Instrument namens shehnai] und Nicky Hopkins über das ganze Gewirbel diese perlenden Pianoklänge legt - dieses Piano auf diesem Gewirbel, es war der schönste Klang, den ich bis dahin in meinem Leben gehört hatte. Alles, was aus mir geworden ist, put the blame on those 45 seconds.
 
 
 



Und dann, Montags auf dem Schulhof, "Hast du das gesehen? Hast du das gesehen?" 

Ich hatte es gesehen.
 
 
 





Ich stellte die Platte, vielmehr diese Reliquie, auf die fortan also im Wesentlichen zugeklappte Tastatur des 100-Mark-Klaviers, mit dem mein Chopin-begeisterter Vater einen Horowitz aus mir machen wollte.

"Sticky Fingers" war das Portal, der Durchgang zur anderen Welt, der Durchgangsritus selbst. Die 10 Songs sind immer noch nicht einfach Songs. Jeder einzelne war ein Universum, ein Versprechen, ein Pakt mit der Zukunft, in die Hirnrinde gebrannt. Ich kann jeden Song von Anfang bis Ende träumen. In das Bild mit dem gähnenden Jagger und Richards als Hosen-role model # 1 muß ich irgendwann ein Loch gestarrt haben.

Rebellion und Ausschweifung, Dekadenz und Grusel. "Sticky Fingers" war faszinierend unheimlich, vor allem "Sister Morphine", die Slidegitarre, die einem immer noch kalte Schauer über den Rücken jagt. "Why does the doctor have no face?" Der Rhythmus von "Bitch" schien mir unfaßbar böse, die "hey hey yeah"s am Ende wie Triumphgeheul bei einer Auspeitschparty, und die Zeile "It must be love, it's a bitch" offenbarte sich später als Kōan. -> Jörg Lorenzen besorgte sich "Sticky Fingers" ebenfalls, und als ich ihn auf dem Schulhof fragte, welchen Song er am besten findet, sagte er: "Wild Horses". Das überraschte mich damals, now I get it. Das arrogant polternde "Brown Sugar", die zerlumpte Majestät von "Sway", dieses dramatische Gitarrensolo von Mick Taylor, die 7-Minuten-Magie von "Can't You Hear Me Knocking", der New Orleans-Begräbnismarsch-Sound von "You Gotta Move", die Tore zu elegantly wasted, die "Dead Flowers" für mich öffnete, die Geheimschrift von "Sticky Fingers", die ich entzifferte, handelte von the grace of going astray. Der Song aber, der in mir alle Lichter entzündete, war "Moonlight Mile".



When the wind blows and the rain feels cold
With a head full of snow
With a head full of snow
In the window there's a face you know

Don't the nights pass slow
Don't the nights pass slow
 

The sound of strangers sending nothing to my mind
Just another mad mad day on the road
I am just living to be lying by your side
But I'm just about a moonlight mile on down the road

Made a rag pile of my shiny clothes
Gonna warm my bones
Gonna warm my bones
I got silence on my radio
Let the air waves flow
Let the air waves flow

Oh I am sleeping under strange strange skies
Just another mad mad day on the road
My dreams is fading down the railway line
I'm just about a moonlight mile down the road

I'm hiding sister and I'm dreaming
I'm riding down your moonlight mile
I'm hiding baby and I'm dreaming
I'm riding down your moonlight mile




Jon Landau im Rolling Stone nannte "Moonlight Mile" 

... a masterpiece. The semi-oriental touch seems to heighten the song's intense expression of desire, which is the purest and most engaging emotion present on the record. The sense of personal commitment and emotional spontaneity immediately liberate Jagger's (double-tracked) singing [...] There is something soulful here, something deeply felt [...] Paul Buckmaster [...] does the best job with strings I can remember in a long, long time, while Charlie Watts only goes through the motions of loosening up his style, as he comes down hard on the nearly magical line, "Just about a moonlight mile." 

When Jagger finally says "Here we go, now" as Mick Taylor's guitar (Richard is inexplicably absent) falls perfectly into place with a hypnotic chord pattern, it's as if he is taking our hand and is literally going to walk us down his dream road. As the strings push the intensity level constantly upwards and Charlie emphasizes the development with fabulous cymbal crashes, the energy becomes unmistakably erotic — erotic as opposed to merely sexual [...] The expression of need that dominates so much of the record is transformed from a hostile statement into a plea and a statement of warmth and receptiveness.
This cut really does sway and when Jagger's voice re-enters, it is [...] with the kind of abandon that he seems uniquely capable of. And unique is the best word to describe the cut as a whole [...].

Dieses halb fernöstliche, halb orientalische Arrangement brachte etwas so fremdartig Schönes und Mysteriöses in die Musik, und vermutlich habe ich sie nie wieder verlassen, diese dream road und die Stimmung dieses Songs. Lyrics, von denen ein Kritiker schrieb: re-created all the paradoxical distances inherent in erotic love with a power worthy of Yeats. Die Anspielung auf snow, Kokain, ist nicht das weiße Geheimnis von "Moonlight Mile".























Mittwoch, 8. Mai 2013

Ladislav Klima, Sternenhoch







SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

23.06.2006



Zwischendurch von jenseits der Geschmacksgrenze: nächtens ward ich trunken von Ladislav Klima, "Die Leiden des Fürsten Sternenhoch". Tagsüber fragte ich mich, ob bei mir noch alles stimmt. Ich empfehle das Buch niemandem, las es aber mit Augen groß wie 5 Kopeken. "Grotesk" wäre eine groteske Untertreibung. Bei wikipedia fand ich dies: 

Utrpení knížete Sternenhocha (The Sufferings of Prince Sternenhoch: Prague 1928) is his most famous novel. In a series of journal entries, the book chronicles the descent into madness of Prince Sternenhoch, who moves from the life of a nobleman to a life filled with suffering, eccentricity, bouts of madness and self-torment. Having sunk to the lowest level, he eventually attains an ultimate state of bliss and salvation. 

Das ist aber sehr euphemistisch. Strukturell der "Venus im Pelz" nicht ganz unähnlich (alleszersetzende Beziehung zur "grausamen" Frau), aber dermaßen bizarr und böse, daß man sich fragt, was Klima, eigentlich Philosoph, sich in die Brause gekippt haben mag. Keine Ahnung, wie man sich die Welt vorstellen soll, in der das spielt. Eine burleske Mischung aus verblasener Philosophie und Trash-Horror, am Ende hat man Floria Sigismondi-Ästhetik oder Tool-Videos im Kopf, so haarsträubend, daß kein Kamm das wieder hinkriegt. Zum Schreien. Aber langweilig war's nicht. Wie Lotte Lenya sagt: "Da wird was geboten für sein Geld".













Einen "seltsamen Mann" nannte der tschechische Dichter und Nobelpreisträger Jaroslav Seifert in seinen Erinnerungen "Alle Schönheiten der Welt" den Schriftsteller und Philosophen Ladislav Klíma. Seifert berichtet von einem Treffen in der Weinstube "U Šuterů", das mit dem völligen Besäufnis von Klíma endete.

Volker Strebel, fixpoetry.com




Klima verstand sich niemals als Literat; seine Prosa war nur ein Nebenprodukt seiner Philosophie und diente ihm als Einübung in die spätere "Praxis". Die Qualität der Texte schwankt entsprechend. Er bezeichnete die Art seines Schreibens als "Rotzen auf alles, was bisher Literatur hieß". Stellenweise gelangen ihm faszinierende Texte.
 

Das Verfahren hängt von seiner jeweiligen Verfassung ab. Banalitäten werden transponiert auf eine Metaebene, verklärt zum Nonsens und Dada, Surreales, Träume, Visionen werden eingebaut, es wird entschwebt, erleuchtet, postuliert: "Ludibrionismus" – die Welt als Spiel des freien Willens; "Deoessenz" – das Ich als Gott. Der ganze Schwulst des gotischen Romans, philosophisch verbrämt; aber dann bekommt der eigene Schatten eins in die Fresse, und das dämonische Gespenst, der Tod selbst, sieht aus wie ein Wassermann mit Gelbsucht. Klima arbeitet nicht auf Pointen hin, sie passieren ihm beim Schreiben, wie nebenbei – ein poetischer Mehrwert.
 

1910 notiert er, quasi als Nachwort zu seinem literarischen Schaffen: "Die Form des Romans, wie er bis heute geschrieben wird, ist zu eng. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich eine absolut freie, durch nichts zu bändigende, vom Hohngelächter einer souveränen, göttlichen Skepsis beherrschte Form einfindet." 1928 starb Ladislav Klima mit fünfzig Jahren an Tuberkulose.
 

Seine Werke wurden von Freunden gesammelt: als lose Blätter in den Papierkörben billiger Hotels entdeckt, unter Tischen von Gasthäusern, oft samt deren Verfasser. 

Libuše Moníková, Die Zeit, 1993