Freitag, 26. Juli 2013

Hudson Astrolook & Melancholie














SPIEGEL ONLINE Forum

02.12.2008






Goldfrapp - Seventh Tree

Wie immer machen Goldfrapp nichts so wie zuvor, der Disco-Glam mit perversem Unterton ist verschwunden zugunsten von Cocteau Twins mit perversem Unterton. Denkt man zuerst. Und dann wird die Platte mit jedem Hören gewaltiger und am Ende steht man wieder mit offenem Mund vor dieser völlig einzigartigen Band und fragt sich, woran einen das nur erinnert. Jedenfalls nicht, bei aller neuen Wärme und allen Akustikgitarren, an Treehugging. An gar nichts, außer daß Alison Goldfrapp das ewige Mädchen ist, das immer da und immer unerreichbar ist. Die seltsam vollkommene und seltsam irreale Erscheinung in einem Puppenhaus, die darauf wartet, daß ihr eine Seele eingehaucht wird. Die Attraktion in einem schäbigen Stripteaseclub, mit ihrem Blick des eisigen Verzichts und überlegener Verachtung, Göttin der einsamen Tränen, die nur der Spiegel sehen darf.















Ladytron - Velocifero

Helen Marnie, Mira Aroyo und ihre 2 Mitstreiter haben den distanziert-erotischen Elektro-Minimalismus ausgebaut in eine betörende Vielschichtigkeit, in der sich Synth-Lagen übereinander türmen und ein "Speed Of Life"-artig verzerrt polterndes Schlagzeug Bass und Gitarren in den Electroclash zieht. Wie Goldfrapp eine sonderbare Mischung jetzt aus warm und kühl, nach wie vor paßt aber der gelegentliche Song in Bulgarisch bestens zur gertenschlanken Hineingestelltheit dieser beiden irgendwie exoterrestrisch wirkenden Damen in Situationen, in denen der schreckende Übergang von Sex zu großem Gefühl zum Rücksturz mit dem Kubrickschen Raumgleiter verführt ("I'm not scared to go home"). Wenn diese immer etwas verhallten, unterkühlten Stimmen "They gave you a heart" konstatieren, klingt das immer noch wie die leicht verwunderte Selbstreflexion von Roboterpuppen, noch immer paart sich "Venus sucht den Superstar" mit der sozialistischen Strenge eines völlig unbegründet optimistischen Aufbruchs, aber im Video werden jetzt schon mal pelzige Nager gehalten, auch wenn der energische Schritt nirgendwohin führt. Botschaften wie Lautsprecherdurchsagen in Metropolis: "I wrote a protest song about you." Hudson Astrolook + Melancholie, die beiden müssen herzzerreißend schöne Melodien, die zugleich von enormer Traurigkeit sind, im Kühlschrank lagern, der letzte Song, "Versus", ist schon fast unerträglich genial. Like a kitten versus rain.















Nine Inch Nails - Ghosts I-IV

Eine Schiffsladung Geister, die so unerwartete Dinge wie Steelgitarre, Banjo und Dulcimer mitbringt, daß Reznor sich mit glasscherbenscharfen Satie- oder Debussyklängen auskennt, wußte man ja. 36 dunkle Träume, während Eno ein Nickerchen macht. Während Eno im Studio zur Inspiration gern Kärtchen mit kryptischen Texten verteilt, war für jedes Stück von "Ghosts" irgendeine visuelle Referenz der Ausgangspunkt, imaginierte Orte, Szenarios, die dann mit Sound und Textur bekleidet wurden, akustische Gemälde, Einladung zur Verstörung wie immer inklusive.














Gutter Twins - Saturnalia

Mark Lanegan und Greg Dulli hausen in dem Keller, in dem Rowland S. Howard mit These Immortal Souls hauste. Düsterer, rauher, weißer Blues, voll der hundertmal zerfledderten Zärtlichkeit, die man nur auf verbrannter Erde fühlen kann. "All Misery/Flowers" fängt mit dem Drumbeat an, der auch U2's "Trip Through Your Wires" eröffnet, dann kommt Lanegans Stimme und macht daraus Stadionrock für Satans Stadion, nach der ersten Strophe ein Sound wie von einem riesigen prähistorischen Vogel, weit da oben, aber nicht mehr lange. Eine Million Zigaretten später nagelt dich "Idle Hands" ans Kreuz, und von da aus siehst du zu, wie hier alles ominös aus irgendeinem Dunkel kriecht, um Oden an den Herzbruch zu veredeln. Beste Platte, wenn du von Bruder, Schwester, Vater, Mutter, der Liebsten und schließlich allen guten Geistern verlassen bist. In dieser Reihenfolge.





















Sonntag, 7. Juli 2013

Nick Cave














SPIEGEL ONLINE Forum

Juni 2009






*42*: 
Sag mal, darf ich mal in Deinem Plattenschrank wühlen? :=)












Gern! Gemäß der Chaostheorie könnte das etwas Ordnung hineinbringen. Gemäß meiner eigenen Chaostheorie jedenfalls.
Gute Nacht, Nacht:
















ray05:
Neuen Ordner anlegen, z. B. Nick draufschreiben, Nick reintun. :) Füllt sich wie von alleine, der Nickordner, OK, ab und zu mal Schnee aus der Mappe schippen.

















Dieser Tracy Pew ist für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet. Aber gut, en route und von vorn, Aufräumaktion auf dem Junkyard.

















ray05:
Der Geburtstagspartypunk ging damals komplett an mir vorbei; aufmerksam wurde ich erst, als mir ein Mädchen - jaaa! es gab so Perlen :) - eine MC aufnahm und schenkte. Seite 1: Pricks, Eternity, Tupelo und das ganz frühe Badseedszeug von Nick; Seite 2: Neubauten, Patient O glaub ich.

Die zwei verschiedenen MC-Seiten sprachen damals für mich schon ahnungsvoll miteinander, bildeten aber leider mit dem unglaublichen "Swordfishtrombones" den Regierungssitz von Kannitverstan. Recht froh wurde ich also nicht damit, vielleicht weil mir die Erfahrung der Lektüre von "Moby Dick" und "Billy Budd" noch fehlte. Dostoevsky und Fontane allein scheint als Vorbereitung nicht ausreichend gewesen zu sein. Madness und Miles Davis auch nicht. :)















Aljoscha T entdeckte Nick Cave genau auf der Rückfahrt von Seite 83, eine auf dem Bahnhof erworbene Zeitschrift mit dem Artikel, in dem der Titel eines Abschnitts lautete: "Der Einzelgänger agiert immer." Katherine Mansfield, Tagebücher. Schon diese Titelzeile wurde für den Protagonisten bedeutend.

Die Birthday Party habe ich zwar auch nur im Retroverfahren kennengelernt, und es bleiben abgesehen vom Bewundern des Strukturenzerlegens (aber dafür muß man Virtuose sein!) von denen vornehmlich zwei Stücke, "Mr Clarinet" und "Mutiny In Heaven". Nick Cave aber war Literatur plus phantastische, dramatische Musik plus der Bad Seeds ingesamt als Combo eines mir bis dahin unvertrauten STILS: der Outlaw als bestgekleidetster Mann der Welt. "Kicking Against The Pricks", "Your Funeral, My Trial" werden im Buch ja auch erwähnt, schlugen genau dort ein, als Zeichengeber der "unwahrscheinlichen Mitwirkung" (Breton). 

Der besagte Artikel stammte von der großartigen Jutta Koether, aus einer Zeit und dem Hirn einer Frau also, die über Musik mit Mischung aus künstlerischer Kompetenz und unbedingtem persönlichem Einsatz schrieb, an der Oscar Wilde (Kunstkritik hat gefälligst selbst kreativ zu sein, sonst ist sie Schrott) seine pure Freude gehabt hätte. Cave hatte zu der Zeit "seit eineinhalb Jahren" an seinem Buch geschrieben: der Sänger, der sich als Künstler versteht, der viel in seine Songtexte hineingesteckt hat und wußte, wie alles, was man als "Sänger" tut, zu leicht trivialisiert wird. Und er erwähnte Dostojewski, ja. Genau da. 

Die Bad Seeds, anmutig bis brachial in der überall spürbaren Verarbeitung von Einflüssen, aber mit einem neuen Gefühl für das alles, konzentriert und seltsam isoliert, vom Standpunkt der Nicht-Zugehörigkeit aus, im Grunde schon immer bereit, "one more town around the bend" aufzusuchen, aufsuchen zu müssen, weil alles so schiefgeht wie bei William Blake dem Zweiten. Fünf- oder sechsmal live gesehen, vom berüchtigten Kings ov Independence-Festival, wo erstmal halb St.Pauli klirrte, bevor um 5 Uhr morgens tatsächlich noch Nick Cave und seine Kumpane im Docks erschienen und zu "Saint Huck" ansetzten, bis zum Gegenbeweis zur kolportierten Humorlosigkeit, als er im sonnigen Stadtpark bei "The Singer" nicht "I pass a million houses", sondern "I pass a million trousers" sang. Blixa Bargeld kriegte sich nicht mehr ein. Zuletzt bei der "Abattoir Blues / Lyre of Orpheus"-Tour. Ich persönlich liebe ja Mädchenchöre am Rande der Hysterie, und Nick hat den Damen bestimmt vorher Dylans "Street Legal" und "Shot Of Love" nochmal vorgelegt.













ray05:
Aber ja. Nick ist aber auch einer von diesen Bußpredigern und Bänkelsängern, die im Planwagen die öden Kaffs im Herrgottswinkel abklapperten. Zwar staubig aber bestens gekleidet. An den Crossroads verkauften sie dann Schnaps und verführten die jungen Dinger ... :)













"Abattoir Blues / Lyre of Orpheus", Tabelle nach dem 33. Spieltag: "Spell" – "Nature Boy" – "There She Goes My Beautiful World" – "Supernaturally". Architektonisch unverzichtbar aber auch "Hiding All Away", klingt thematisch wie die Antwort auf "Supernaturally", so geht das, Susie Bick, wenn jeder nur auf seine Seite bringt, großartig auch, wie das linkische Tretmühlengeschmurgel am Anfang erst Nicks Lachen und dann einen sardonisch polternden Rhythmus provoziert, und die Chormädchen genauso aufs Geratewohl einsetzen müssen wie seinerzeit die Damen bei Dylans "The Groom's Still Waiting At The Altar" und einmal dann ja auch ins Kichern kommen ob leicht versemmeltem Einsatz. Sehr schön. 

Schon die weißen Hemden auf der Rückseite von "It's Still Living", Birthday Party. Alles hinter sich, Heuschrecken, Finsternis und Flut, Seitenstraßen voller Blut, geht der Mann seiner Extra-Plage entgegen, begleitet von einer Gruppe Typen, die aussehen wie unkommunikative Bestatter auf The Road To God Knows Where mit Extra-As im Ärmel. Und die Plage wird ein Strumpfband tragen, und hinter ihrem übernatürlich blassen Gesicht lauert irgendeine perverse, maliziöse Zeremonie. Tod sollte deine letzte Sorge sein, Kumpel. Wo geht man hin, wenn man jedes Höllenfeuer exploriert hat? Genau dahin zurück natürlich. Pathologische Obsession, alter Blues, neue sexuelle Elektrizität. Und manchmal klingen die Bad Seeds wirklich wie die letzte Band auf Erden.